Elise hob den Kopf, und in ihren fliederfarbenen Augen lag ein entschlossenes Funkeln, das er noch nie bei ihr gesehen hatte. „Camden ist nicht das einzige Kind, das vermisst wird. Kannst du sie alle retten, Sterling? Können die Krieger des Ordens sie alle retten?“ Sie seufzte leicht. „Niemand hat Jonas Redmond gerettet. Er ist tot, wusstest du das? Seine Mutter kann es fühlen. Immer mehr von unseren Söhnen verschwinden, sterben jede Nacht, und wir sollen hier herumsitzen und auf schlechte Nachrichten warten?“
Chase spürte, wie sich sein Kiefer verkrampfte. „Ich muss los, Elise. Du kennst meine Antwort. Es tut mir leid.“
Er ging an ihr vorbei, schlüpfte in den Mantel und eilte nach draußen. Er wusste, dass sie ihm folgte; ihr weißer Rock raschelte leicht hinter ihm bei jedem ihrer schnellen Schritte, aber Chase ging weiter. Er zog seine Schlüssel aus der Tasche, schloss den Haupteingang des Gebäudes auf und drückte dann die Fernbedienung seines silbernen Lexus-Geländewagens, der draußen in der Auffahrt stand. Der Wagen machte ein zwitscherndes Geräusch, und die Lichter blitzten als Rückmeldung auf, aber Chase erkannte, dass er nicht so bald wegkommen würde.
Ein schwarzer Range Rover versperrte die Auffahrt und wartete in der Dunkelheit. Der Motor lief. Die Fenster waren dunkler getönt als erlaubt, aber Chase brauchte nicht hineinzusehen, um zu wissen, wer drin saß. Er konnte Dantes Wut durch Stahl und Glas hindurch spüren. Sie rollte direkt auf ihn zu wie eine frostige Woge.
Der Krieger war nicht allein. Er und sein Begleiter, dieser eiskalte Typ namens Tegan, stiegen aus dem Wagen und kamen zur Rasenfläche herübergeschlendert. Ihre Gesichter wirkten äußerst gelassen, aber die Drohung, die von den beiden großen Männern ausging, war unmissverständlich.
Chase hörte, wie Elise hinter ihm nach Luft schnappte. „Sterling …“
„Geh wieder nach drinnen“, befahl er und behielt die beiden Krieger im Auge. „Sofort, Elise. Es ist alles in Ordnung.“
„Was ist los, Sterling? Warum sind die hier?“
„Tu einfach, was ich gesagt habe, verdammt noch mal! Geh zurück ins Haus. Es wird alles gut.“
„O, da wäre ich nicht so sicher, Harvard.“ Dante kam auf ihn zu. Die tückischen gebogenen Klingen an der Hüfte des Kriegers glommen bei jedem Schritt im Mondlicht auf. „Ich würde sagen, im Moment sieht die Lage so beschissen aus, wie sie nur sein kann. Was wir dir verdanken. Bist du gestern Nacht verloren gegangen, oder was? Vielleicht hast du mich ja nur missverstanden, als ich dir sagte, was du mit diesem Aas von Dealer machen sollst – war es so? Ich hatte dir aufgetragen, ihn ins Quartier zu schaffen. Aber du dachtest vielleicht, ich hätte gemeint, lass den Scheißkerl einfach laufen?“
„Nein. Es gab kein Missverständnis.“
„Was ist mir dann entgangen, Harvard?“ Dante zog eine seiner Klingen aus der Scheide; der Stahl machte ein singendes Geräusch wie leises Flüstern. Als Dante sprach, sah Chase die Spitzen seiner Fangzähne. Ein leuchtender, bernsteinfarbener Blick ruhte auf ihm wie ein Zwillings-Laser. „Fang lieber an zu reden. Ich habe nämlich überhaupt kein Problem damit, hier auf der Stelle vor den Augen dieser Frau die Wahrheit aus dir herauszuschneiden.“
„Sterling!“ Elise schrie auf. „Lasst ihn in Ruhe!“
Chase drehte rasch den Kopf und sah gerade noch, wie sie die Treppen hinuntereilte, die zur Straße führten. Sie kam jedoch nicht weit. Tegan bewegte sich wie ein Geist, und Elises menschliche Gliedmaßen waren der Vampirgeschwindigkeit nicht ebenbürtig. Der Krieger packte sie um die Taille und hielt sie fest, wie sehr sie auch strampelte und sich wehrte.
Wut flammte in Chase auf wie trockener Zunder, an den man ein angezündetes Streichholz hält. Seine Fangzähne fuhren sich aus und sein Blickfeld schärfte sich, als seine Pupillen durch die Verwandlung zu Schlitzen wurden. Er brüllte auf, bereit, es mit beiden Kriegern aufzunehmen, schon allein, weil einer von ihnen gewagt hatte, Elise zu berühren.
„Lass sie gehen“, fauchte er. „Verdammt, sie hat damit nichts zu tun!“
Er versetzte Dante einen Stoß, doch der rührte sich nicht vom Fleck.
„Immerhin haben wir jetzt deine volle Aufmerksamkeit, Harvard.“ Dante schubste ihn zurück. Es war, als träfe ihn ein Güterzug unter Volldampf. Chase’ Füße hoben vom Boden ab, sein Körper wurde von Dantes Stoß durch die Luft geschleudert. Die Ziegelsteinfassade des Gebäudes unterbrach seine Flugbahn, als Chase hart mit dem Rückgrat dagegen schlug.
Dantes riesige Fangzähne tauchten direkt vor seinem Gesicht auf, seine Augen brannten sich in Chase’ Schädel. „Wo ist Ben Sullivan? Was zum Henker führst du wirklich im Schilde?“
Chase warf einen Blick zu Elise hinüber. Es war ihm unendlich zuwider, dass sie diese brutale Seite ihrer beider Welt miterleben musste. Er wollte nur, dass es für sie aufhörte. Er sah die Tränen, die ihre Wangen hinabliefen, sah die Angst in ihren Augen, während Tegan sie eisern festhielt, kalt und gefühllos, sie an all den tödlichen Stahl und das Leder drückte, das seinen riesigen Körper umspannte.