Ben schluckte schwer. Er wollte zu gern glauben, dass der Kerl eine Art wahnsinniger Vampir-Fantast war. Bloß ein Verrückter mit viel Zaster und wenig Vernunft. Nur dass er selbst gesehen hatte, wie das Crimson auf den Jungen wirkte, dem er es neulich Nacht verkauft hatte. Diese entsetzliche Verwandlung war real gewesen, so schwer es auch zu glauben war. Und die tiefe, brennende Wunde an seinem Hals war ebenfalls real.
Panik begann wild in seiner Brust zu hämmern.
„Wissen Sie, ich hab keine Ahnung, was hier vor sich geht. Ehrlich gesagt will ich’s auch gar nicht wissen. Verdammt, ich will hier bloß in einem Stück wieder raus.“
„Ausgezeichnet. Dann sollten Sie keine Schwierigkeiten damit haben, meiner Aufforderung nachzukommen. Geben sie mir die Formel.“
„Ich sagte Ihnen doch schon, dass ich sie nicht bei mir habe.“
„Dann werden Sie sie noch einmal neu erstellen müssen, Mr. Sullivan.“ Ein knapper Wink ließ die beiden bewaffneten Wachen den Raum betreten. „Ich habe mir erlaubt, Ihre Laboreinrichtung hierherbringen zu lassen. Alles, was Sie benötigen, ist vorhanden, einschließlich einer Testperson für das fertige Produkt. Meine Mitarbeiter werden Ihnen den Weg zeigen.“
„Warten Sie!“ Die Wachen stießen ihn auf die Tür zu. Ben warf einen hastigen Blick über die Schulter. „Sie verstehen nicht. Die Formel ist … sehr komplex. Ich habe sie mir nicht eingeprägt. Sie richtig hinzukriegen könnte mehrere Tage dauern …“
„Sie haben nicht mehr als zwei Stunden, Mr. Sullivan.“
Brutale Hände packten ihn unnachgiebig und schubsten ihn auf die Treppe ins Untergeschoss, das ihm unheilvoll entgegengähnte wie schwarze, endlose Nacht.
Chase schnallte sich seine Waffen um und überprüfte ein letztes Mal seinen Munitionsvorrat. Er hatte eine Pistole, die mit herkömmlichen Patronen geladen war. Eine weitere Waffe enthielt an der Spitze gekerbte Spezial-Titankugeln, die ihm die Krieger ausdrücklich zu dem Zweck gegeben hatten, Rogues damit zu töten. Er hoffte aufrichtig, sie nicht einsetzen zu müssen, aber wenn er ein Dutzend wilder Vampire wegblasen musste, um an seinen Neffen zu kommen, würde er das verdammt noch mal tun.
Er nahm seinen dunklen Mantel vom Haken neben der Tür und trat hinaus ins Treppenhaus. Elise stand ganz still da, fast wäre er in sie hineingerannt.
„Sterling … hallo. Gehst du mir aus dem Weg? Ich hatte gehofft, ich könnte mit dir reden.“ Ihre fliederfarbenen Augen musterten ihn mit einem raschen Blick. Sie runzelte die Stirn, als sie das Arsenal von Messern und Schusswaffen entdeckte, das er um die Hüften und quer über die Brust trug. Er fühlte deutlich ihre Besorgnis und roch die plötzliche, bittere Note von Furcht – gemischt mit ihrem zarten, eigenen Duft. „So viele schreckliche Waffen. Ist es so gefährlich da draußen?“
„Mach dir darüber keine Gedanken“, sagte er. „Bete einfach weiter für Camden, dass er bald wieder nach Hause kommt. Um den Rest kümmere ich mich.“
Sie nahm das Ende ihrer scharlachroten Witwenschärpe und ließ den Seidenstoff beiläufig durch ihre Finger gleiten. „Eigentlich wollte ich genau darüber mit dir reden, Sterling. Ein paar von den Frauen und ich haben darüber gesprochen, was wir noch für unsere vermissten Söhne tun können. Gemeinsamkeit macht stark, also haben wir gedacht, dass wir uns vielleicht zusammentun sollten … wir könnten tagsüber im Hafengebiet oder in den alten U-Bahn-Schächten nach ihnen suchen. Wir können an allen Orten nachsehen, wo unsere Söhne Schutz vor der Sonne gesucht haben könnten …“
„Ausgeschlossen! Auf gar keinen Fall.“
Chase hatte nicht vorgehabt, sie so abrupt abzuwürgen. Aber die Vorstellung, sie könnte tagsüber die Schutzzone des Dunklen Hafens verlassen, um sich in die schlimmsten Gegenden der Stadt zu begeben, ließ sein Blut gefrieren. Solange die Sonne da war, war sie außerhalb seines Schutzes und dem aller anderen Stammesmitglieder. Selbst wenn die Rogues aus denselben Gründen keine Gefahr bedeuteten, bestand immer das Risiko, ihren Lakaien in die Arme zu laufen.
„Es tut mir leid, aber das kommt nicht infrage.“
Sie machte vor Überraschung große Augen. Dann sah sie schnell nach unten und nickte höflich, doch er konnte spüren, dass sie sich unter der Maske der Schicklichkeit sträubte. Das Stammesgesetz gab Chase als ihrem nächsten Angehörigen – wenn auch angeheiratet – das Recht, ihr tagsüber eine Ausgangssperre aufzuerlegen. Das war eine altertümliche Maßnahme, die bereits seit der Entstehung der Dunklen Häfen vor beinahe tausend Jahren existierte. Chase hatte bisher noch nie davon Gebrauch gemacht. Auch wenn er sich dabei wie ein Arschloch fühlte, konnte er nicht zulassen, dass sie ihr Leben riskierte, während er machtlos in der Dunkelheit saß.
„Glaubst du, mein Bruder würde das, was du vorhast, billigen?“, fragte Chase und wusste, dass Quentin einer solchen Idee niemals zugestimmt hätte; nicht einmal, um das Leben seines Sohnes zu retten. „Du hilfst Camden am besten, indem du hier bleibst, wo ich dich in Sicherheit weiß.“