Die Kosten sozialer Normen
Stellen Sie sich vor, Sie sind zum Thanksgiving-Essen bei Ihrer Schwiegermutter. Was hat sie für ein fürstliches Mahl aufgetischt! Der Truthahn ist goldbraun gebraten, die selbstgemachte Füllung genau so, wie Sie sie mögen. Ihre Kinder sind begeistert: Die Süßkartoffeln sind mit Marshmallows dekoriert. Ihre Frau fühlt sich geschmeichelt: Zum Nachtisch gibt es einen Kürbis-Pie nach ihrem Lieblingsrezept.
Das Festessen zieht sich bis in den späten Nachmittag hinein. Sie lockern Ihren Gürtel und trinken ein Glas Wein. Mit einem liebevollen Blick zu Ihrer Schwiegermutter stehen Sie auf und ziehen Ihr Portemonnaie heraus. »Liebe Schwiegermama, du hast so viel Liebe in all dies gesteckt, was schulde ich dir?«, sagen Sie mit feierlicher Stimme. Während die Anwesenden in Schweigen verfallen, wedeln Sie mit ein paar Geldscheinen. »Glaubst du, dass dreihundert Dollar genug sind? Ach, warte, ich gebe dir lieber vierhundert!«
Nein, das ist keine Idylle im Stil von Norman Rockwell. Ein Weinglas fällt um, Ihre Schwiegermutter erhebt sich mit gerötetem Gesicht, Ihre Schwägerin wirft Ihnen einen wütenden Blick zu, und Ihre Nichte bricht in Tränen aus. Es sieht so aus, als würden Sie Thanksgiving nächstes Jahr mit einem Fertiggericht vor dem Fernseher verbringen.
Was geht hier vor sich? Warum setzt das Geldangebot den Feiernden einen solchen Dämpfer auf? Die Antwort lautet, dass wir in zwei verschiedenen Welten gleichzeitig leben – in der einen herrschen soziale Normen vor, in der anderen bestimmen die Normen des Marktes die Regeln. Zu den sozialen Normen gehören auch freundliche Bitten an andere. Könnten Sie mir helfen, diese Couch umzustellen? Könnten Sie mir helfen, den Reifen zu wechseln? Soziale Normen sind in unserer sozialen Natur und unserem Bedürfnis nach Gemeinschaft verankert. In der Regel vermitteln sie Wärme und Wohlgefühl. Man erwartet keine sofortige Belohnung: Sie helfen Ihrem Nachbarn, seine Couch umzustellen, aber das heißt nicht, dass er gleich zu Ihnen herüberkommen muss, um nun Ihre Couch umzustellen. Es ist, wie wenn Sie jemandem die Haustür öffnen: Beide Seiten freuen sich, aber eine unmittelbare Gegenleistung ist nicht nötig.
Die andere Welt, die von den Normen des Marktes beherrscht wird, ist völlig anders. Hier ist es keineswegs warm und kuschelig. Vielmehr geht es um eindeutig definierte Dinge: Löhne, Preise, Mieten, Zinsen sowie Kosten und Nutzen. Solche wirtschaftlichen Beziehungen sind nicht unbedingt schlecht oder schäbig – sie beinhalten auch die Werte Selbstvertrauen, Erfindungsreichtum und Individualismus –, aber sie implizieren vergleichbaren Nutzen und pünktliche Bezahlung. Im Reich der Marktnormen bekommt man das, wofür man bezahlt – Schluss, aus.
Wenn wir die sozialen Normen und die Normen des Marktes getrennt halten, läuft das Leben ziemlich gut. Nehmen Sie beispielsweise den Sex. Im sozialen Kontext bekommen wir ihn gratis, und er ist hoffentlich liebevoll und emotional befriedigend. Aber es gibt auch den käuflichen Sex auf Nachfrage und gegen Geld. Beide sind klar voneinander getrennt: Wir haben weder Ehemänner (oder Ehefrauen), die nach Hause kommen und eine Nummer für 50 Dollar verlangen, noch gibt es Prostituierte, die auf ewige Liebe hoffen.
Wenn jedoch soziale Normen mit denen des Marktes kollidieren, geraten wir in Schwierigkeiten. Nehmen wir noch einmal das Beispiel Sex. Ein junger Mann führt ein Mädchen zum Abendessen und zu einem Kinobesuch aus und bezahlt die Rechnung beziehungsweise die Eintrittskarte. Die beiden gehen erneut aus, und auch dieses Mal bezahlt er. Beim dritten Abend lässt er wieder das Geld fürs Essen und die Unterhaltung springen. Nun aber hofft er zumindest auf einen leidenschaftlichen Kuss an der Haustür. Sein Portemonnaie ist schon bedenklich dünn geworden, aber schlimmer ist das, was in seinem Kopf vorgeht: Es fällt ihm schwer, die soziale Norm (das Umwerben) mit der Marktnorm (Geld gegen Sex) voneinander getrennt zu halten. Beim vierten Rendezvous erwähnt er beiläufig, wie viel ihn diese Romanze kostet. Damit aber hat er die Grenze überschritten. Ein grober Schnitzer! Sie schimpft ihn einen Primitivling und stürmt davon. Er hätte wissen müssen, dass man soziale und Marktnormen nicht miteinander vermischen darf – insbesondere in diesem Fall, denn damit unterstellt er der jungen Dame, dass sie käuflich ist. Außerdem hätte er gut daran getan, sich an die unsterblichen Worte von Woody Allen zu erinnern: »Der teuerste Sex ist der, der nichts kostet.«