Aber da war nichts. Nur dieser abgestorbene, jämmerliche Baum auf dem Hügelkamm, der seine Drachenklauen in den schiefergrauen, von Wolken überzogenen Himmel reckte. Nichts als irgendein blöder Baum. Etwas Eiskaltes fuhr Scott unter die Haut und breitete sich dort wellenartig aus. Mit beiden Händen griff er nach den Zeichnungen, klappte die Seiten an der durchnässten Falzung auf und richtete den Blick auf den Kasten, der ihn schwindeln machte: Auf dieser Zeichnung hob sich ein kahler Baum schwarz gegen einen bleichen Mond ab. Mit weit aufgerissenen Augen wandte er den Blick vom Blatt. Er konnte nicht glauben, was er da eben gesehen hatte: Der Baum auf der Zeichnung glich in allen Einzelheiten dem, der direkt vor ihm stand. Jeder Ast, jeder Zweig, jeder Knoten war darauf detailgetreu abgebildet
Völlig konsterniert blickte Scott zwischen der natürlichen und der gezeichneten Szenerie hin und her, verglich im Kopf beide Ansichten miteinander, trat von rechts nach links, trat vor und zurück, wie ein Landvermesser, der Markierungen in die richtige Perspektive rücken will. Während er sich leicht zur Seite drehte, starrte er mit zusammengekniffenen Augen auf die trostlose Szenerie vor sich, um sie gleich darauf erneut mit dem Kasten zu vergleichen, in dem im Vordergrund, als schiefergraue Silhouette, ein Grabstein abgebildet war. Auf der Zeichnung war der Baum weiter entfernt... Und ja, tatsächlich: Ganz rechts war darauf auch ein teilweise zerstörter Abschnitt der Friedhofsmauer zu sehen ...
Es war nicht nur der Baum. In jeder Einzelheit entsprach die Zeichnung dieser ganzen traurigen Szenerie. Es war so, als habe der Alte genau hier gesessen, als er diese Sequenz zeichnete, und nicht meilenweit entfernt in Ottawa.
Der Winkel war trotzdem noch nicht ganz richtig ...
Als Scott mit der rechten Ferse gegen etwas Hartes stieß, erfasste ihn eine schreckliche Gewissheit Langsam drehte er sich um, um sich dem Anblick zu stellen.
Es war derselbe Grabstein wie auf der Zeichnung, genau wie er befürchtet und irgendwo tief im Inneren auch gewusst hatte. Wie ein Kind, dessen schlimmster Albtraum plötzlich wahr geworden ist, fuhr er instinktiv von der zwei mal ein Meter großen, eingesunkenen Totenstätte zurück. Er schüttelte den Kopf, um die Benommenheit loszuwerden, und machte sich daran, den verwitterten Vers zu entziffern, der im oberen Abschnitt des Grabsteins eingemeißelt war:
Scott wandte den Blick nach unten, dem Namen der Verstorbenen zu, und las:
Und als er sie las, als sein Hirn diese letzte Querverbindung herstellte, ergriff ihn eine so elementare, entmutigende Furcht, dass er sich ruckartig umdrehte, um zu fliehen, um so weit zu rennen, bis sich Kontinente zwischen ihn und den Friedhof legten. Aber seine Füße weigerten sich, sie blieben hier haften, als wären sie festgenagelt. So konnte er nur stehen bleiben, wahrend er keuchte und aus tiefster Kehle wimmerte.
Denn Marissa Rowe, bei ihrer Beerdigung zehn Jahre alt, war am 12. Juli 1972 gestorben. Genau an dem Tag, als Scott und seine Freunde mit Scotts Volkswagen, dem alten Käfer, ein Kind umgefahren und getötet hatten.
Ein kleines Mädchen, das sie damals für nicht viel älter als zehn Jahre gehalten hatten ...
So alt wie Kath.
Scotts Beine gaben unter ihm nach. Als er sich hart auf Marissa Rowes Grabstelle setzte und das Kinn am gebeugten Knie aufschlug, gruben sich seine Zähne schmerzhaft in die Lippen. Er spürte, wie er ins Rutschen kam und näher auf den Grabstein zu glitt, als werde er gezogen. Und jetzt sickerte ihm auch noch etwas Nasses vom Kinn, dessen Tropfen sich auf dem klammen Handrücken verteilten. Blut? Ja, es war Blut und ...