Er wandte sich wieder dem Kind zu und stellte dabei seltsam distanziert und mit medizinischer Nüchternheit fest, dass es ein Albino war. Gleich darauf geriet die Welt ringsum aus den Fugen und schwand aus seinem Blickfeld, als sich nach und nach Dunkelheit über ihn senkte. Und dann gruben sich kräftige Finger in seine Schultern, und die Stimme eines Wahnsinnigen schleuderte ihm hart und zischend irgendwelche Worte entgegen.
»Werd mir bloß nicht ohnmächtig, du Arschloch. Wir müssen hier weg, Mann, und zwar sofort. Das ist dir doch klar, oder?« Jake Laking. »Da hinten bei den Bäumen leuchtet irgendwas, ich nehm an, es ist das Außenlicht einer Veranda. Allerdings glaub ich nicht, dass uns irgendwer gesehen hat.« Seine bernsteinfarbenen Augen funkelten wie die eines Raubtiers. »Wenn wir hier bleiben, sind wir geliefert. Komm schon, steh auf. Sofort!«
»Er hat Recht, Scott«, sagte jemand mit schwankender Stimme. Brian. »Lieber Gott, er hat ja Recht... Bitte!«
Und er hatte wirklich Recht, oder? Hier bleiben war gleichbedeutend mit einer unvorstellbar harten persönlichen Katastrophe. Das Kind war tot - und für Tote kann man sowieso nichts mehr tun. Um sicherzugehen, tastete Scott nochmals nach der Halsschlagader des Mädchens. Immerhin war es ja möglich, dass er den lebenswichtigen Pulsschlag beim ersten Mal nicht richtig registriert hatte. Schließlich war er ja noch kein Arzt; das hier hatte er doch nur aus dem Fernsehen, verdammt noch mal. Da machten sie das immer, selbst in Western.
Aber da war nichts, war kein Puls. Und selbst die Wärme, die er eben noch gespürt hatte, war kaum noch wahrzunehmen. Jetzt mussten sie an sich denken.
Mussten sich aus dem Staub machen.
Das Kätzchen leckte an dem klebrigen, unheimlichen Blut und schnurrte dabei wie ein Motor ... der Motor eines Volkswagens. In diesem Moment merkte Scott, dass er ganz allein neben dem Opfer seiner Tat kniete. Die anderen hatten sich in den Wagen geflüchtet. Jake saß starr und steif hinter dem Lenkrad, Brian hatte sich auf dem Rücksitz zusammengekauert.
Heftig hin und her schwankend, blieb Scott an Ort und Stelle stehen, unfähig, den Blick von dem seelenlosen Körper abzuwenden, für dessen Tod auf der Straße er verantwortlich war.
Und dann rannte auch er davon.
Er stolperte über einen winzigen verlorenen Schuh, fiel so hin, dass er alle viere von sich streckte, rappelte sich wieder hoch und zwängte sich wie ein Dieb in den wartenden Wagen.
Doch vorher merkte er noch, dass hinter den Bäumen ein gelbliches Licht flackerte.
Scott wandte den Blick von dem unheimlichen Fleck auf der Straße zum regenfeuchten Wald, wo er ein Gebäude ausmachen konnte. Von seinem Standort aus sah er einen Teil des mit schwarzen Schindeln gedeckten Daches. Niedergeduckt, nach hinten geneigt, mit einem einzigen verrotteten Giebel und einer verglasten Veranda ähnelte es eher einer Hütte als einem Haus. Als Scott völlig durchnässt und zitternd in die von Unkraut überwucherte Lichtung trat, die das Gebäude umgab, merkte er, dass hier niemand mehr wohnte. Irgendwann einmal, es musste Jahre her sein, hatte jemand das Gebäude auf Pfahle gebockt. Wahrscheinlich, um es gegen Überschwemmungen zu sichern. Allerdings hatte sich eine der Holzstützen längst verlagert, so dass sich das Gebäude jetzt bedenklich zur Seite neigte.
Scott befand sich am Rande dessen, was früher wohl einmal der hintere Garten gewesen war. Links von ihm, quer über einer Pfütze, standen die rostigen Überreste einer Kinderschaukel. Unter einer Trauerweide verrottete eine aus Fässern zusammengenagelte, niedrige Hundehütte. Auf der kleinen Terrasse vor der Hintertür gammelten eine uralte Ringer-Waschmaschine, ein bejahrter Holzstuhl und ein verrostetes Dreirad vor sich hin. Über der Tür, die nur angelehnt war, hing eine nackte Glühbirne, wundersamerweise völlig unversehrt. Der düstere Eingang war kreuz und quer mit Spinnweben überzogen.
Völlig durcheinander machte sich Scott mit hastigen, großen Schritten auf den Weg durch den Garten. Wie jemand, der sich beobachtet glaubt, blickte er, nervös von einer Seite zur anderen, wieder und wieder. Am Haus angekommen, warf er sich mit der Schulter gegen die Hintertür, hielt aber plötzlich inne, weil sich sein ungutes Gefühl mit einem Mal verstärkte.