509 hatte Rosen halbgebückt weiterstolpern und zurückbleiben sehen. Er wußte, daß er in wenigen Sekunden völlig erschöpft sein und stürzen würde. Es geht mich nichts an, dachte er, nichts. Ich will keine Dummheiten machen. Jeder muß allein für sich sorgen. Die Reihe kam wieder nahe an der Baracke vorbei. 509 sah, daß Rosen jetzt der letzte war. Rasch blickte er auf Niemann, der der Baracke immer noch den Rücken zugedreht hatte, und dann rundum. Keiner von den Barackenaltesten achtete auf ihn. Alle blickten zu den beiden hinüber, denen Niemann das Bein gestellt hatte. Handke war sogar mit gerecktem Kopf einen Schritt vorgetreten. 509 ergriff den vorübertaumelnden Rosen am Arm, zog ihn heran und hinter sich durch die Reihe. »Schnell! Durch! In die Baracke! Versteck dich!« Er hörte Rosen hinter sich keuchen und sah aus den Augenwinkeln etwas wie eine Bewegung, und dann hörte er das Keuchen nicht mehr. Niemann hatte nichts gesehen. Er hatte sich immer noch nicht umgedreht. Auch Handke hatte nichts bemerkt. 509 wußte, daß die Tür der Baracke offenstand. Er hoffte, daß Rosen ihn verstanden hatte. Und er hoffte, daß er, wenn er trotzdem erwischt wurde, ihn nicht verraten würde. Er mußte wissen, daß er ohnehin verloren gewesen wäre. Die Neuen waren von Niemann nicht abgezählt worden, und er hatte jetzt eine Chance. 509 fühlte, daß seine Knie zitterten und seine Kehle trocken wurde. Das Blut brauste ihm plötzlich in den Ohren. Vorsichtig blickte er zu Berger hinüber. Berger beobachtete unbewegt den normenden Haufen, in dem mehr und mehr Leute stürzten. Sein angestrengtes Gesicht zeigte, daß er alles gesehen hatte. Dann hörte 509 hinter sich Lebenthal flüstern:»Er ist drin.« Das Zittern seiner Knie wurde stärker. Er mußte sich gegen Bucher lehnen. Die Holzschuhe, die ein Teil der Neuen empfangen hatte, lagen überall um« Kor. Die Leute waren nicht gewohnt, sie zu tragen, und hatten sie verloren. Nur zwei Leute klapperten noch verzweifelt in ihnen weiter. Niemann putzte seine Brille. Sie war angelaufen. Es kam von der Wärme, die er spürte, wenn er die Todesangst sah, während die Häftlinge stürzten, sich wieder aufrafften, stürzten, sich aufrafften und weitertaumelten. Es war eine Wärme im Magen und hinter den Augen. Er hatte sie zum ersten Male gespürt, als er seinen ersten luden getötet hatte. Er hatte es eigentlich gar nicht gewollt; aber dann war es über ihn gekommen. Er war immer ein gedrückter, verschubster Mensch gewesen, und er hatte sich anfangs fast gefürchtet, auf den Juden einzuschlagen. Als er ihn dann aber vor sich am Boden rutschen und um sein Leben betteln sah, hatte er plötzlich gespürt, wie er ein anderer wurde, kraftvoller, mächtiger, er hatte sein Blut gefühlt, der Horizont war weiter geworden, die demolierte, bürgerliche Vierzimmerwohnung des kleinen jüdischen Konfektionärs mit ihren grünen Ripsmöbeln hatte sich in die asiatische Wüste Dschingis Khans verwandelt, der Handlungsgehilfe Niemann war auf einmal Herr über Leben und Tod gewesen, Macht war dagewesen, Allmacht, ein scharfer Rausch, der sich ausbreitete und höher stieg, bis dann der erste Schlag ganz von selbst kam auf den weich nachgebenden Schädel mit dem spärlichen, gefärbten Haar. -»Abteilung halt!« Die Häftlinge glaubten es fast nicht. Sie hatten erwartet, bis zum Tode weiterrennen zu müssen. Baracken, Platz und Menschen wirbelten in einer Sonnenfinsternis vor ihnen. Sie hielten sich aneinander. Niemann setzte seine geputzte Drille wieder auf. Er hatte es plötzlich eilig. »Bringt die Leichen hier herüber.« Sie starrten ihn an. Es waren bis jetzt noch keine Leichen da. »Die Umgefallenen«, verbesserte er sich. »Die, die liegengeblieben sind.« Sie wankten hin und packten die Liegenden an Armen und Beinen. An einer Stelle lag ein ganzes Knäuel von Menschen. Sie waren dort übereinandergestürzt. 509 sah Sulzbacher im Durcheinander. Er stand und trat, gedeckt durch andere vor ihm, einem Mann, der auf dem Boden lag, gegen die Schienbeine und zerrte ihn an den Haaren und an den Ohren. Dann bückte er sich und riß ihn auf die Knie. Der Mann fiel bewußtlos zurück. Sulzbacher stieß ihn wieder, schob ihm die Hände unter die Arme und versuchte, ihn aufzurichten. Es gelang ihm nicht. Er schlug jetzt wie verzweifelt mit den Fäusten auf den Bewußtlosen ein, bis ein Blockältester ihn wegschob. Sulzbacher drängte wieder hinüber. Der Blockälteste gab ihm einen Tritt. Er glaubte, Sulzbacher habe eine Wut auf den Bewußtlosen und wolle sie noch an ihm auslassen. »Du verdammtes Mistvieh!« knurrte er. »Laß ihn doch in Ruhe. Er geht sowieso hops.« Der Kapo Strohschneider kam mit dem flachen Lastwagen, auf dem sonst die Leichen transportiert wurden, durch die Drahtverhaupforte gefahren. Der Motor knatterte wie ein Maschinengewehr. Strohschneider fuhr an den Haufen heran. Die Gefallenen wurden aufgeladen. Einige versuchten noch zu entkommen. Sie waren wieder bei Bewußtsein. Aber Niemann paßte jetzt auf; er ließ keinen mehr fort, auch niemand von denen, die sich freiwillig gemeldet hatten. »Wegtreten, wer nicht hierher gehört!« schrie er. »Die, die sich krank gemeldet haben, den Rest aufladen!« Die Leute stürzten fort, in die Baracken, so rasch sie konnten. Die Bewußtlosen wurden aufgeladen. Dann gab Strohschneider Gas. Er fuhr so langsam, daß die Freiwilligen zu Fuß folgen konnten. Niemann ging nebenher. »Eure Leiden sind jetzt zu Ende«, sagte er mit veränderter, fast freundlicher Stimme zu seinen Opfern. »Wo werden sie hingebracht?« fragte einer von den Neuen in Baracke 22. »Block 46 wahrscheinlich.« »Was passiert da?« »Ich weiß es nicht«, erwiderte 509. Er wollte nicht sagen, was man im Lager wußte – daß Niemann eine Kanne Benzin und ein paar Injektionsspritzen in einem Räume des Versuchsblocks 46 hatte und daß keiner von den Gefangenen wiederkommen würde. Strohschneider würde sie abends zum Krematorium bringen. »Weshalb hast du den einen noch so geprügelt?« fragte 509 Sulzbacher. Sulzbacher sah ihn an und erwiderte nichts. Er würgte, als müsse er einen Klumpen Watte schlucken, und ging dann fort. »Es war sein Bruder«, sagte Rosen. Sulzbacher erbrach sich, ohne daß etwas anderes aus seinem Munde kam als ein bißchen grünlicher Magensaft.