»Eines Morgens nun gingen Hoch, Ebenhoch und Dritt am Gestade des Meeres entlang, als sie zwei Treibholzstämme fanden, die an der Grenzen zwischen Land und festem Meer trieben. Und der Schatten von Ebenhoch fiel auf den einen Stamm und der Schatten Dritts auf den anderen. Hoch sah, wie sich die Schatten ihrer Arme und Beine bewegten. Da ließ er sich vor dem Baumstamm, der dem Ufer am nächsten war, auf die Knie fallen, legte seine Lippen an die Rinde und hauchte ihm seinen göttlichen Atem ein. Alsdann bildete sich aus diesem Stamm, einer Ulme, die Gestalt einer Frau heraus, doch sie war noch leblos, und ihre Augen blickten leer. Hoch beugte sich über den anderen Stamm, der von einer Esche stammte. Wieder hauchte er darauf, und es entstand die Gestalt eines Mannes. Auch er öffnete die Augen und lag regungslos da.
Da wussten die beiden anderen Brüder, dass das Werk ohne ihre Gaben noch nicht vollendet war. Ebenhoch blickte auf die Frau, und er gab ihr die Jugend, die fünf Sinne und den Verstand. Langsam setzte sie sich auf und begann, die herrliche Welt zu bewundern. Dann wandte sie sich um, und ihr Blick fiel auf den Mann. Nun wandte Ebenhoch sich dem Mann zu und verlieh ihm seine Kraft, und auch dieser erhielt die Fähigkeit, zu sehen, zu hören, zu riechen, zu fühlen und zu schmecken.
Dritts Geschenk aber war die Gabe zu reden.
Und die Menschen gingen hinaus, die Welt in Besitz zu nehmen, und die Götter blickten auf ihr Werk und sahen, dass es wohl getan war.
Die Schwarzalben aber, die in den Tiefen von Ymirs Leib in dunklen Höhlen lebten, fühlten nichts als Neid auf die neuen Herren der Welt, und ihr Hass auf die Wesen des Lichts, die solches vollbracht hatten, wurde übermächtig und ist nicht geschwunden bis auf den heutigen Tag.«
Der Alte beendete seine Erzählung. Seine Stimme hatte alle in seinen Bann gezogen; selbst Hagen hatte zum Schluss andächtig gelauscht, und ob er nun etwas von seiner Skepsis verloren hatte oder nicht, so enthielt er sich jedenfalls eines weiteren Kommentars.
»Wir müssen gehen«, sagte der Graue. »Es wird Zeit, sonst finden die Swart-alfar unsere Spur.«
Der Alte packte seinen Stock; die beiden Raben flogen auf und nahmen auf seinen Schultern Platz. Er wandte sich um. »Folgt mir«, sagte er knapp und setzte sich in Bewegung, auf den rechten Gang zu.
Die Kinder folgten ihm; es blieb ihnen auch gar nichts anderes übrig. Der Alte hatte sie in dieses Höhlensystem gebracht, und sie waren ihm nun auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.
Hagen langte in seine rechte Hosentasche, um sein Taschentuch herauszuholen. Dabei passierte es. Klirrend kullerte der goldene Ring direkt vor Siggis Füße. Gedankenschnell und noch bevor Hagen irgendetwas unternehmen konnte, bückte sich Siggi, hob ihn auf, und ließ in seiner Tasche verschwinden.
»Was war das?«, sagte der Graue, der sich umdrehte.
»Nur eine Münze«, log Siggi, und er wunderte sich, wie glatt ihm diese Lüge über die Lippen kam. »Sie ist mir aus der Tasche gefallen!« Siggi zeigte einen Groschen vor, den er zufällig in der Tasche gehabt hatte.
Hagen stand wie erstarrt und wusste nicht, ob er verärgert oder erfreut sein sollte. Immerhin hatte Siggi das Geheimnis des Rings gewahrt.
Gunhild war völlig fassungslos. Ihr Bruder war der schlechteste Lügner unter der Sonne, und nun hatte er diesen alten Mann belogen, ohne mit der Wimper zu zucken; diesen Mann, der mit seinem Auge auf den Grund der Seele blicken konnte.
»Dann kommt«, sagte der Graue. »Lasst uns nun wirklich gehen!«
Der Alte ging los. Die Kinder folgten ihm im Gänsemarsch: Vorneweg Siggi, dahinter Hagen, und Gunhild bildete den Schluss. Kaum waren sie einige Meter in dem Gang vorangekommen, schob sich Hagen neben Siggi.
Der war noch ganz stolz auf seine Tat und hatte mehr Freundlichkeit und ein kleines bisschen Dankbarkeit von Hagen erwartet, und er beschloss spontan, auf stur zu schalten und das Ding erst einmal zu behalten. Hagen könnte ja wenigstens mal Bitte sagen.
»Nein! Nicht jetzt«, widersprach er flüsternd. »Du kriegst ihn später wieder ...«
»Was tuschelt ihr denn da?«, fragte der Alte. »Kann das nicht warten?«
»Nur eine kleine Kabbelei unter Jungs«, sagte Gunhild schnell und drängte sich zwischen Hagen und Siggi.
»Das ist nicht die Zeit und der Ort für Streit«, mahnte der Alte. »Wir müssen weiter. Der Weg ist noch weit, und ich bin, wie ihr sicherlich bemerkt habt, nicht mehr der Jüngste.« Die Stimme des Alten klang wieder amüsiert.
Hagen warf Siggi einen finsteren Blick zu.
»Es ist mein«, zischte er böse. »Ich will ihn wiederhaben. Du willst ihn bloß behalten.«
Siggi würdigte ihn keiner Antwort und ging stur weiter. Er würde, weil Hagen es so gewünscht hatte, den Ring weiter geheim halten. Das war er ihm schuldig. Aber so gierig, eifersüchtig und neidisch brauchte dieser Typ nun wirklich nicht zu sein. Siggi blickte nach vorn und ignorierte den wütenden Hagen.