Aber wovor, fragte Bonpland. Daß die plötzlich aufwachten?
Genau davor, sagte Julio.
Zumindest, sagte Carlos, werde das teuer werden.
Der Fluß war hinter den Katarakten noch sehr schmal, immer wieder schleuderten Stromschnellen das Boot hin und her. Gischt durchtränkte die Luft, Felsen rasten gefährlich nahe vorbei. Die Moskitos waren gnadenlos: Es schien keinen Himmel mehr zu geben, nur noch Insekten. Bald hatten die Männer aufgegeben, nach ihnen zu schlagen. Sie hatten sich daran gewöhnt, ständig zu bluten.
In der nächsten Mission bekamen sie Ameisenpastete zu essen. Bonpland weigerte sich, davon zu nehmen, aber Humboldt kostete ein wenig. Dann entschuldigte er sich und verschwand eine Weile im Unterholz. Nicht uninteressant, sagte er, als er zurückkam. Immerhin eine Möglichkeit, künftige Nahrungsmittelprobleme zu löP Psen.
Hier sei doch alles menschenleer, sagte Bonpland. Das einzige, wovon es genug gebe, sei Essen!
Der Häuptling des Dorfes fragte, was in den Stoffballen sei. Er habe einen furchtbaren Verdacht.
Seekuhknochen, sagte Bonpland.
So rieche es nicht, sagte der Häuptling.
Na schön, rief Humboldt, er gebe es zu. Aber diese Toten seien so alt, daß man sie eigentlich nicht mehr Leichen nennen könne. Die ganze Welt bestehe schließlich aus toten Körpern! Jede Handvoll Erde sei einmal ein Mensch gewesen und vorher ein anderer Mensch, jede Unze Luft sei tausendfach von inzwischen Verstorbenen geatmet worden. Was hätten sie nur alle, wo sei das Problem?
Er habe ja nur gefragt, sagte der Häuptling schüch-tern.
Gegen die Moskitoangtiffe hatten die Dorfbewohner Lehmhütten mit verschließbaren Eingängen gebaut. Im Inneren zündete man ein Feuer an, das die Insekten hinaustrieb, dann kroch man hinein, dichtete den Eingang ab, löschte das Feuer und konnte einige Stunden in der heißen Luft sein, ohne gestochen zu werden. In einer dieser Hütten ordnete Bonpland so lange die gesammelten Pflanzen, bis er vom Qualm in Ohnmacht fiel. Nebenan schrieb Humboldt hustend und halbblind, den röchelnden Hund neben sich, an seinen Bruder. Als sie blinzelnd, mit stinkenden Kleidern und nach Luft schnappend herauskamen, lief ihnen ein Mann entgegen, der ihnen aus der Hand lesen wollte. Er war nackt, bunt bemalt und trug Federn auf dem Kopf. Humboldt wehrte ab, Bonpland interessierte es. Der Wahrsager faßte seine Finger, zog die Brauen hoch und sah ihm amüsiert in die Handfläche.
Ach, sagte er wie zu sich selbst. Ach, ach.
Ja?
Der Wahrsager wiegte den Kopf. Sicher sei ja gar nichts. Es könne so oder so kommen. Jeder sei seines Glückes Schmied. Wer kenne schon die Zukunft!
Nervös fragte Bonpland, was er da sehe.
Langes Leben. Der Wahrsager hob die Schultern. Kein Zweifel.
Und die Gesundheit?
Im allgemeinen gut.
Zum Teufel, rief Bonpland. Jetzt wolle er wissen, was dieser Blick bedeute.
Welcher Blick? Langes Leben und Gesundheit. Das stehe da, das habe er gesagt. Ob dem Herrn dieser Kontinent gefalle?
Warum?
Er werde sehr lange hiersein.
Bonpland lachte. Das bezweifle er. Ein langes Leben, und dann ausgerechnet hier? Gewiß nicht. Es sei denn, irgend jemand zwinge ihn.
Der Wahrsager seufzte und hielt, wie um ihm Mut zu machen, noch einen Moment seine Hand. Dann wandte er sich Humboldt zu.
Der schüttelte den Kopf.
Es koste fast nichts!
Nein, sagte Humboldt.
Mit einer schnellen Bewegung ergriff der Wahrsager Humboldts Hand. Der wollte sie wegziehen, aber der Wahrsager war stärker; Humboldt, zum Mitspielen gezwungen, lächelte säuerlich. Der Wahrsager runzelte die Stirn und zog die Hand näher zu sich heran. Er beugte sich vor und wieder zurück. Kniff die Augen zusammen. Blies die Backen auf.
Er solle es schon sagen, rief Humboldt. Er habe noch anderes zu tun. Wenn da Schlimmes stehe, sei es ihm auch egal, er glaube ohnehin kein Wort.
Da stehe nichts Schlimmes.
Sondern?
Nichts. Der Wahrsager ließ Humboldts Hand los. Es tue ihm leid, er wolle auch kein Geld. Er habe versagt.
Das begreife er nicht, sagte Humboldt.
Er auch nicht. Da sei nichts. Keine Vergangenheit, keine Gegenwart oder Zukunft. Da sei gewissermaßen keiner zu sehen. Der Wahrsager blickte aufmerksam in Humboldts Gesicht. Niemand!
Humboldt starrte in seine Hand.
Aber natürlich sei das Unsinn. Sicher sei es seine Schuld. Vielleicht verliere er die Gabe. Der Wahrsager zerdrückte eine Mücke auf seinem Bauch. Vielleicht habe er sie nie gehabt.
Am Abend ließen Humboldt und Bonpland den Schäferhund angebunden bei den Ruderern, um eine insektenfreie Nacht in den Qualmhütten zu verbringen. Erst in den frühen Morgenstunden nickte Humboldt schweißnaß, mit brennenden Augen und vom Rauch wirren Gedanken ein.
Ein Geräusch weckte ihn. Jemand war hereingekrochen und hatte sich neben ihn gelegt. Nicht schon wieder, murmelte er, entzündete mit unsicherer Hand den Kerzendocht und sah, daß es ein kleiner Junge war. Was willst denn du, fragte er, was ist denn, was soll das?
Das Kind musterte ihn mit schmalen Tieraugen. Was denn, fragte Humboldt, was?