Die Weiterfahrt verzögerte sich um einen Tag. Humboldt und Bonpland saßen nebeneinander auf einem umgekippten Baum. Humboldts Blick war auf seine Schuhe gerichtet, Bonpland wiederholte unablässig die Anfangsstrophe eines französischen Abzählreims. Sie wußten nun, wie Curare angefertigt wurde, gemeinsam hatten sie nachgewiesen, daß man eine erstaunliche Menge durch den Mund zu sich nehmen konnte, ohne Schlimmeres zu erleiden als ein wenig Schwindel und optische Chimären, daß einem aber schon bei einem winzigen Quantum, eingetropft ins Blut, die Sinne schwanden und bereits das Fünftel eines Gramms reichte, einen kleinen Affen zu töten, den man jedoch retten konnte, wenn man ihm mit Gewalt Atemluft ins Maul blies, solange das Gift seine Muskeln lähmte. Nach einer Stunde ließ dann die Wirkung nach, allmählich kehrte seine Fähigkeit, sich zubewegen, wieder, und bis auf eine leichte Trübsal blieb nichts bei ihm zurück. So kam es ihnen auch wie eine Täuschung vor, als sich plötzlich das Gebüsch teilte und ein schnurrbärtiger Mann in Leinenhemd und ledernem Wams verschwitzt, doch gefaßt vor sie hintrat. Er war wohl Mitte Dreißig, hieß Brombacher und stammte aus Sachsen. Er habe, sagte er, keine Pläne und kein Ziel, er wolle einfach die Welt sehen.
Humboldt schlug ihm vor, mit ihnen zu kommen.
Brombacher lehnte ab. Allein erfahre man mehr, und Deutsche treffe man ohnehin daheim in Mengen.
Stockend, seiner Muttersprache entwöhnt, fragte Humboldt nach Brombachers Heimatstadt, der Höhe ihres Kirchturms, der Zahl ihrer Bewohner.
Brombacher antwortete ruhig und höflich: Bad Kürthing, vierundfünfzig Fuß, achthundertzwei unddreißig Seelen. Er bot ihnen schmutzige Teigfladen an, sie wehrten ab. Er erzählte von den Wilden, den Tieren und den einsamen Nächten im Urwald. Nach kurzem stand er auf, lüftete seinen Hut, stapfte davon, und das Blattwerk schloß sich hinter ihm. Unter allen Ungereimtheiten seines Lebens, schrieb Humboldt tags darauf seinem Bruder, sei diese Begegnung die wunderlichste gewesen. Ganz werde er sich nie darüber klar sein, ob sie wirklich stattgefunden habe oder eine letzte Nachwirkung des auf ihrer beider Einbildungskraft lastenden Giftes gewesen sei.
Gegen Abend hatte das Curare sie soweit losgelassen, daß sie wieder umhergehen konnten und sogar Hunger bekamen. Über einem Feuer drehten die Missionsbewohner Spieße mit einem Kinderkopf, drei winzigen Händen und vier Füßchen mit deutlich erkennbaren Zehen. Keine Menschen, erklärte der Missionar, das verhindere man, wo man könne. Nur Äffchen aus dem Wald.
Bonpland weigerte sich, davon zu kosten. Humboldt nahm zögernd eine Hand und biß hinein. Es schmecke nicht schlecht, aber ihm sei nicht wohl dabei. Ob es die Leute beleidige, wenn er nicht aufesse?
Der Missionar schüttelte mit vollem Mund den Kopf. Das interessiere keinen!
In der Nacht hielt der Lärm der Tierstimmen sie wach. Die eingesperrten Affen hämmerten gegen die Gitter und wollten nicht aufhören zu schreien. Humboldt schrieb den Anfang einer Betrachtung über die Nachtlaute des Waldes und das Tierdasein, welches man als fortgesetzten Kampf, mithin als das Gegenteil des Paradieses verstehen müsse.
Er vermute, sagte Bonpland, daß der Missionar gelogen habe.
Humboldt sah auf.
Der Mann lebe schon lange hier, sagte Bonpland. Der Urwald habe große Kraft. Es sei ihm wohl peinlich gewesen, darum seine Beteuerung. Die Leute hier äßen Menschenfleisch, das habe Pater Zea gesagt, und jeder wisse es. Was könne ein Missionar allein dagegen tun?
Unsinn, sagte Humboldt.
Doch, sagte Julio. Das klinge vernünftig.
Humboldt schwieg einen Moment. Er bitte um Verzeihung. Sie seien alle schon arg mitgenommen. Er habe viel Verständnis. Aber wenn noch einmal jemand die Unterstellung äußere, daß der Patensohn des Herzogs von Braunschweig Menschenfleisch gegessen habe, werde er zur Waffe greifen.
Bonpland lachte.
Er meine es ernst, sagte Humboldt.
Doch nicht wirklich, sagte Bonpland.
Allerdings.
Alle schwiegen beklommen. Bonpland holte Luft, sagte jedoch nichts. Einer nach dem anderen drehten sie sich zum Feuer und stellten sich schlafend.
Von nun an wurde Bonplands Fieber schlimmer. Immer öfter stand er in den Nächten auf und sank nach einigen Schritten kichernd in sich zusammen. Einmal war Humboldt, als beuge sich jemand über ihn. Schemenhaft erkannte er Bonplands Gesicht, die Zähne gefletscht, in der Hand eine Machete. Hastig überlegte er. Man träumte hier Sonderbares, das wußte er nur zu gut. Er brauchte Bonpland. Er mußte ihm vertrauen. Es war also ein Traum. Er schloß die Augen und zwang sich, bewegungslos liegen zu bleiben, bis er das Geräusch von Schritten hörte. Als er das nächste Mal blinzelte, lag Bonpland mit geschlossenen Augen neben ihm.