Der junge wandte den Blick nicht von ihm. Er war völlig nackt. Trotz der Flamme vor seinem Gesicht zwinkerte er nicht.
Aber was denn, flüsterte Humboldt. Was, Kind?
Der Junge lachte.
Humboldts Hand zitterte so stark, daß er die Kerze fallen ließ. Im Dunkeln hörte er ihrer beider Atem. Er streckte die Hand aus, um den Jungen wegzuschieben, aber als er dessen feuchte Haut fühlte, zuckte er zurück, als hätte er einen Schlag bekommen. Geh weg, flüsterte er.
Der Junge rührte sich nicht.
Humboldt sprang auf die Füße, stieß mit dem Kopf an die Decke, trat zu. Der Junge schrie auf, seit der Sache mit den Sandflöhen trug Humboldt nachts Stiefel, und rollte sich zusammen. Er trat wieder zu und traf den Kopf, der Junge wimmerte leise und verstummte. Humboldt hörte sich keuchen. Schemenhaft sah er den reglosen Körper vor sich. Er packte ihn an den Schultern und zerrte ihn hinaus.
Die Nachtluft tat gut; nach dem Qualm in der Hütte kam sie ihm kühl und frisch vor. Mit unsicheren Schritten ging er zur nächsten Hütte, wo Bonpland war. Doch als er die Stimme einer Frau hörte, blieb er stehen. Er horchte, und da war sie wieder. Er wandte sich ab, kroch in seine Hütte, verschloß den Eingang. Durch den kurz geöffneten Vorhang waren Mücken hereingekommen, eine Fledermaus flatterte panisch über seinem Kopf. Mein Gott, flüsterte er. Dann, aus purer Erschöpfung, fiel er in unruhigen Schlaf.
Als er aufwachte, war es heller Morgen, die Hitze war noch stärker geworden, die Fledermaus verschwunden. In makelloser Kleidung, den Degen an der Seite und den Hut unter dem Arm, trat er ins Freie. Der Platz vor der Hütte war leer. Sein Gesicht blutete aus mehreren Schnittwunden.
Bonpland fragte, was ihm passiert sei.
Er habe versucht, sich zu rasieren. Bloß der Moskitos wegen dürfe man nicht verwildern, man sei immerhin ein zivilisierter Mensch. Humboldt setzte sich seinen Hut auf und fragte, ob Bonpland nachts etwas gehört habe.
Nichts Besonderes, sagte Bonpland vorsichtig. Man höre ja viel in der Dunkelheit.
Humboldt nickte. Man träume die seltsamsten Din-ge.
Man könne nicht auf alles hören, was man höre, sagte
Bonpland.
Man müsse schließlich schlafen, sagte Humboldt.
Am nächsten Tag fuhren sie in den Rio Negro ein, über dessen dunklem Wasser die Moskitos weniger wurden. Auch die Luft war hier besser. Aber die Gegenwart der Leichen bedrückte die Ruderer, und selbst Humboldt war bleich und schweigsam. Bonpland hielt die Augen geschlossen. Er befürchte, sagte er, sein Fieber komme zurück. Die Affen schrien in ihren Käfigen, rüttelten an den Gittern und schnitten einander Grimassen. Einer bekam sogar die Tür auf, schlug Purzelbäume, belästigte die Ruderer, kletterte am Bootsrand entlang, sprang auf Humboldts Schulter und bespuckte den knurrenden Hund.
Mario bat Humboldt, auch einmal etwas zu erzählen.
Geschichten wisse er keine, sagte Humboldt und schob seinen Hut zurecht, den der Affe umgedreht hatte. Auch möge er das Erzählen nicht. Aber er könne das schönste deutsche Gedicht vortragen, frei ins Spanische übersetzt. Oberhalb aller Bergspitzen sei es still, in den Bäumen kein Wind zu fühlen, auch die Vögel seien ruhig, und bald werde man tot sein.
Alle sahen ihn an.
Fertig, sagte Humboldt.
Ja wie, fragte Bonpland.
Humboldt griff nach dem Sextanten.
Entschuldigung, sagte Julio. Das könne doch nicht alles gewesen sein.
Es sei natürlich keine Geschichte über Blut, Krieg und Verwandlungen, sagte Humboldt gereizt. Es komme keine Zauberei darin vor, niemand werde zur Pflanze, keiner könne fliegen oder esse einen anderen auf. Mit einer schnellen Bewegung packte er den Affen, der gerade versucht hatte, ihm die Schuhe zu öffnen, und steckte ihn in den Käfig. Der Kleine schrie, schnappte nach ihm, streckte die Zunge heraus, machte große Ohren und zeigte ihm sein Hinterteil. Und wenn er sich nicht irre, sagte Humboldt, habe jeder auf diesem Boot Arbeit genug!
Bei San Carlos zeigte die Inklinationsnadel steil abwärts, während die Kompaßnadel sich nur zögernd für den Norden entschied. Humboldt betrachtete die Instrumente mit andächtiger Miene. Der magnetische Äquator. Von diesem Ort hatte er als Kind geträumt.
Gegen Abend erreichten sie die Mündung des legendären Kanals. Sofort stürzten Mückenschwärme auf sie ein. Doch mit der Wärme verzog sich der Dunst, der Himmel wurde klar, und Humboldt konnte den Längengrad bestimmen. Er arbeitete die ganze Nacht. Er maß den Winkel der Mondbahn vor dem südlichen Kreuz, dann, zur Kontrolle, fixierte er stundenlang mit dem Teleskop die Geisterflecken der Jupitermonde. Nichts sei zuverlässig, sagte er zu dem ihn aufmerksam beobachtenden Hund. Die Tabellen nicht, nicht die Geräte, nicht einmal der Himmel. Man müsse selbst so genau sein, daß einem die Unordnung nichts anhaben könne.
Erst in den frühen Morgenstunden war er soweit. Er klatschte in die Hände. Aufstehen, keine Zeit verlieren! Ein Endpunkt des Kanals sei bestimmt, man müsse schnell zum anderen.