„Das sicher. Übrigens sollen nur die ersten siebzig die schwierigsten sein. Nachher solls einfacher werden.”
„Hundert!” verkündete Pat und wir brachen auf.
Das Meer kam uns entgegen wie ein ungeheures, silbernes Segel. Schon lange vorher spürten wir seinen salzigen Hauch; – der Horizont wurde immer weiter und heller und plötzlich lag es vor uns, unruhig, mächtig und ohne Ende.
Die Straße führte in einem Bogen bis dicht heran. Dann kam ein Wald und hinter ihm ein Dorf. Wir erkundigten uns nach dem Hause, wo wir wohnen sollten. Es lag ein Stück außerhalb des Dorfes. Köster hatte uns die Adresse gegeben. Er war nach dem Kriege ein Jahr lang dort gewesen.
Es war eine kleine, alleinstehende Villa. Ich fuhr den Citroen in elegantem Bogen vor und gab Signal. Ein breites Gesicht erschien hinter einem der Fenster, glotzte bleich einen Augenblick und verschwand. „Hoffentlich ist das nicht Fräulein Müller”, sagte ich.
„Ganz egal, wie sie aussieht”, erwiderte Pat.
Die Tür öffnete sich. Gottlob, es war nicht Fräulein Müller. Es war das Dienstmädchen. Fräulein Müller, die Besitzerin des Hauses, erschien eine Minute später. Eine altjüngferliche, zierliche Dame mit grauen Haaren. Sie trug ein hochgeschlossenes, schwarzes Kleid und ein goldenes Kreuz als Brosche.
„Ich glaube, Herr Köster hat uns schon angemeldet”, sagte ich.
„Ja, er hat mir telegraphiert, dass Sie kommen.” Sie musterte mich eingehend. „Wie geht es Herrn Köster denn?”
„Ach, ganz gut, – soweit man das heute sagen kann.” Sie nickte und musterte mich weiter. „Kennen Sie ihn schon lange?”
Das wird ja ein Examen, dachte ich und gab Auskunft, wie lange ich Otto schon kannte.
„Wenn Herr Köster telegraphiert, bekommen Sie immer ein Zimmer”, erklärte Fräulein Müller und sah mich etwas abfällig an. „Sie bekommen sogar mein schönstes”, sagte sie zu Pat.
Das Zimmer, das sie uns zeigte, lag im unteren Stock. Es hatte einen eigenen Eingang vom Garten her. Das gefiel mir sehr. Es war ziemlich groß, hell und freundlich. An einer Seite, in einer Art von Nische, standen zwei Betten. „Nun?” fragte Fräulein Müller.
„Sehr schön”, sagte Pat. „Prachtvoll sogar”, fügte ich hinzu, um mich einzuschmeicheln. „Und wo ist das andere?”
Fräulein Müller drehte sich langsam zu mir herum. „Das andere? Was für ein anderes? Wollen Sie denn ein anderes? Gefällt Ihnen dieses nicht?”
Ich wollte ihr gerade erklären, dass wir zwei Einzelzimmer brauchten, da fügte sie schon hinzu: „Ihre Frau findet es doch sehr schön – ”
Ihre Frau – ich hatte das Gefühl, als wäre ich einen Schritt zurückgetreten. Aber ich hatte mich nicht von der Stelle gerührt. Vorsichtig warf ich einen Blick auf Pat, die am Fenster lehnte und ein Lachen unterdrückte, als sie mich so dastehen sah.
„Meine Frau, gewiss – ” sagte ich und starrte auf das goldene Kreuz an Fräulein Müllers Hals. Es war nichts zu machen, ich durfte sie nicht aufklären.
Missbilligend schüttelte Fräulein Müller den Kopf. „Zwei Schlafzimmer, wenn man verheiratet ist – das sind so neue Moden – ”
„Gar nicht”, sagte ich, bevor sie misstrauisch werden konnte. „Meine Frau hat nur einen sehr leisen Schlaf. Und ich schnarche leider ziemlich laut.”
„Ach so, Sie schnarchen!” erwiderte Fräulein Müller, als hätte sie sich das längst denken können.
Sie öffnete die Tür zu einem kleinen Zimmer nebenan, in dem nicht viel mehr als ein Bett stand.
„Großartig”, sagte ich, „das genügt vollkommen. Aber störe ich auch niemanden sonst?” Ich wollte wissen, ob wir hier unten für uns allein waren.
„Sie stören niemand”, erklärte Fräulein Müller und die Würde fiel plötzlich von ihr ab. „Außer Ihnen wohnt niemand hier. Die anderen Zimmer sind alle leer.” Sie stand einen Augenblick, dann raffte sie sich zusammen. „Wollen Sie hier im Zimmer essen oder im Speisezimmer?”
„Hier”, sagte ich. Sie nickte und ging.
Ich war eine Stunde geschwommen und lag am Strande in der Sonne. Pat war noch im Wasser. Ihre weiße Badekappe tauchte ab und zu zwischen dem blauen Schwall der Wellen auf.
Das Geräusch der schwachen Brandung rauschte mir in den Ohren. Es erinnerte mich an etwas, an einen Tag, wo ich ebenso gelegen hatte —
Es war im Sommer 1917 gewesen. Unsere Kompanie lag damals in Flandern und wir hatten unverhofft ein paar Tage Urlaub nach Ostende[121]
bekommen, Meyer, Holthoff, Breyer, Lütgens, ich und noch einige andere. Die meisten von uns waren noch nie am Meere gewesen und diese wenigen Tage, diese fast unbegreifliche Pause zwischen Tod und Tod, wurden zu einer wilden Hingabe an Sonne, Sand und Meer. Ein paar Tage später begann dann die große Offensive und schon am dritten Juli hatte die Kompanie nur noch zweiunddreißig Mann und Meyer, Holthoff und Lütgens waren tot.„Robby!” rief Pat.
Ich öffnete die Augen. Einen Moment musste ich mich besinnen, wo ich war. Immer, wenn Erinnerungen aus dem Kriege kamen, war man gleich weit weg.
Ich richtete mich auf. Pat kam aus dem Wasser.