Köster sah mich immer noch an. „Robby”, erwiderte er langsam, „ich weiß nicht mehr, wie viele Menschen ich getötet habe. Aber ich weiß noch, wie ich einen jungen Engländer abgeschossen habe. Er hatte eine Ladehemmung und konnte nichts mehr machen. Ich war mit meiner Maschine ein paar Meter hinter ihm und sah sein erschrockenes, kindliches Gesicht mit der Angst in den Augen ganz genau, es war sein erster Flug, das stellten wir nachher fest und er war knapp achtzehn Jahre alt und in dieses erschrockene, hilflose, hübsche Kindergesicht habe ich auf ein paar Meter Entfernung eine Garbe mit meinem Maschinengewehr gejagt, dass der Schädel platzte wie ein Hühnerei. Ich kannte den Jungen nicht und er hatte mir nichts getan. Es hat damals länger gedauert als sonst, bis ich darüber weggekommen bin und bis ich mein Gewissen zugestampft hatte mit diesem verdammten: Krieg ist Krieg. Aber ich sage dir, wenn ich den, der Gottfried umgebracht hat, der ihn wie einen Hund niedergeschossen hat ohne Grund, nicht auch umbringe, dann war das mit dem Engländer ein furchtbares Verbrechen, verstehst du das?”
„Ja”, sagte ich.
„Und jetzt geh nach Hause. Ich muss sehen, dass es zu Ende kommt. Es ist wie eine Mauer. Ich kann nicht weiter, ehe sie nicht weg ist.”
„Ich gehe nicht nach Hause, Otto. Wenn es so ist, wollen wir zusammenbleiben.”
„Unsinn”, sagte er ungeduldig. „Ich kann dich nicht brauchen.” Er hob die Hand, als er sah, dass ich reden wollte. „Ich werde schon aufpassen! Ich werde ihn allein treffen, ohne die andern, ganz allein! Hab keine Angst.”
Er schob mich ungeduldig vom Sitz und raste sofort davon. Ich wusste, dass nichts ihn mehr aufhalten konnte. Ich wusste auch, weshalb er mich nicht mitgenommen hatte. Wegen Pat. Gottfried hätte er mitgenommen.
Ich ging zu Alfons. Er war der einzige, mit dem ich sprechen konnte. Ich wollte mit ihm beraten, ob wir etwas tun könnten. Aber Alfons war nicht da. Ein verschlafenes Mädchen sagte mir, er sei vor einer Stunde zu einer Versammlung gegangen. Ich setzte mich an einen Tisch um zu warten.
Das Lokal war leer. Nur eine kleine Birne brannte über dem Schanktisch. Das Mädchen hatte sich wieder hingesetzt und schlief weiter. Ich dachte an Otto und an Gottfried, ich blickte aus dem Fenster auf die Straße, die jetzt vom langsam über die Dächer steigenden Vollmond erhellt wurde, ich dachte an das Grab mit dem schwarzen Holzkreuz und dem Stahlhelm darüber und plötzlich merkte ich, dass ich weinte. Ich wischte die Tropfen weg.
Nach einiger Zeit hörte ich rasche, leise Schritte im Hause. Die Tür, die zum Hof führte, öffnete sich und Alfons trat herein. Sein Gesicht glänzte von Schweiß.
„Ich bins, Alfons”, sagte ich.
„Komm her, rasch!”
Ich folgte ihm in das Zimmer rechts hinter dem Schankraum. Alfons ging an einen Schrank und holte zwei alte Militärverbandspäckchen heraus. „Kannst mich mal verbinden”, sagte er und zog geräuschlos die Hose aus.
Er hatte einen Riss am Oberschenkel. „Das sieht aus wie ein Streifschuss”, sagte ich.
„Ist es auch”, knurrte Alfons. „Los, verbinde schon!”
„Alfons”, sagte ich und richtete mich auf. „Wo ist Otto?”
„Wie soll ich wissen, wo Otto ist”, murrte er und presste die Wunde aus.
„Wart ihr nicht zusammen?”
„Nein.”
„Du hast ihn nicht gesehen?”
„Keine Ahnung. Fasere das zweite Päckchen auseinander und leg es drauf. Ist nur ne Schramme.”
Er beschäftigte sich weiter brummend mit seiner Wunde.
„Alfons”, sagte ich, „wir haben den – du weißt schon, mit Gottfried, – wir haben ihn heute abend gesehen und Otto ist hinter ihm her.”
„Was?” Er wurde sofort aufmerksam. „Wo ist er denn? Hat doch keinen Sinn mehr! Er muss weg!”
„Er geht nicht weg.”
Alfons warf die Schere beiseite. „Fahr hin! Weißt du, wo er ist? Er soll verschwinden. Sag ihm, dass das mit Gottfried fertig ist. Habe früher Bescheid gewusst als ihr! Siehst es ja! Hat geschossen, aber ich habe ihm die Hand runtergeschlagen. Dann habe ich geschossen. Wo ist Otto?”
„Irgendwo um die Mönkestraße rum.”
„Gott sei Dank. Da wohnt er ja längst nicht mehr. Aber schaff ihn trotzdem weg.”
Ich ging zum Telefon und rief den Taxistand an, wo Gustav sich gewöhnlich aufhielt. Er war da. „Gustav”, sagte ich, „kannst du mal zur Ecke Wiesenstraße und Bellevueplatz kommen? Schnell? Ich warte da.”
„Gemacht. Bin in zehn Minuten da.”
Ich hängte den Hörer ein und ging zu Alfons zurück. Er zog sich eine andere Hose an. „Habe nicht gewusst, dass ihr unterwegs wart”, sagte er. Sein Gesicht war immer noch naß.
„Wäre besser gewesen, ihr hättet irgendwo gesessen. Wegen des Alibis. Könnte ja sein, dass sie euch danach fragen. Man weiß nie – ”
„Denk lieber an dich”, sagte ich.