Dennoch gab es keinen ständigen oder zügellosen Antisemitismus in der Schule. Und während der Blockade erst recht nicht. In der Klasse gab außer Leva keine Juden. Während der Blockade konnte man dann sowieso kaum mehr an die Schule zu denken. In der ersten Zeit kamen die Schüler noch aus Gewohnheit, später dann gar nicht mehr.
Blockade
Als der Krieg ausbrach, war die Familie in der Stadt. Am 20. Juni gingen sie ins Kino «Molot» an der Razyezzhaya Straße. Es lief eine Wochenschau mit dem Titel «Wenn der Krieg morgen kommt», man ahnte also schon was und es lag in der Luft.
Dann begannen die Bombardierungen und der Beschuss durch Artillerie. Als die Deutschen näher rückten, nahmen sie die Stadt mit Langstreckenkanonen unter Beschuss, was weniger vorhersehbar und damit schlimmer war, als die Bomben. Bei den Bombardierungen warfen die Deutschen viele Brandbomben, damit so viel wie möglich niederbrennt. Die Bomben waren auf Magnesiumbasis gebaut, wogen bis zu zwei Kilogramm und explodierten nicht, sondern setzten alles rund herum in Brand. Sobald eine Bombardierung begann rannten die Jungs furchtlos auf den Dachboden, wo die Fässer mit Sand standen. Über der Stadt waren sehr viele Aerostate, um Bombardierungen zu verhindern. Viel halfen die aber nicht, die Deutschen zündeten sie an oder schossen sie aus ihren Flugzeugen ab.
Furchterregend war während der Bombardierungen vor allem, wenn das achtstöckige Haus wie ein Spielzeughaus wackelte. Die Schutzbunker wurden gemieden, aus Angst, begraben zu werden.
Der Vater wurde bei einer Bombardierung verwundet. Die Mutter hob derweil mit den anderen Frauen Schützengräben aus. Regelmäßig beschossen die Deutschen die Frauen dabei zielgerichtet.
Schon im August 1941 sah der 13-jährige Leva Peskin zum ersten Mal einen Hungertod: Im Laden fiel ein Besucher einfach zu Boden und starb. Als der Blockadering dann geschlossen wurde (es war wohl am 8. September), wurde das zur Normalität.
Im Winter 1942 während der Blockade fand im Haus eine Versammlung statt. Es wurde die Warnung ausgegeben, kleine Kinder nicht allein raus zu lassen, da es Fälle gab, bei denen Kinder getötet und gegessen wurden. Auf den Straßen konnte man auch Leichen von Erwachsenen sehen, bei denen Teile des Körpers ausgeschnitten waren. Und niemanden kümmerte es. In den Wohnräumen gab es kein Licht. Beleuchtet wurde mit einer Öllampe: Maschinenöl wurde in einer Untertasse angezündet.
Die Wasserleitungen waren außer Betrieb. Das Wasser holte man aus Luken, indem man einen Eimer mit Seilen nach unten ließ.
In den Wohnräumen war es schrecklich kalt. Der Vater besorgte irgendwo eine «Burschuika», einen Kanonenofen aus Metall, der dann mit allem beheizt wurde, was zu finden oder zu stehlen war. Dazu gehörten vor allem auch Zeitungen. Bücher zu verbrennen, konnte die Familie sich nicht erlauben, aus ethischen Gründen.
Zusätzlich machten die Ratten zu schaffen. Man legte sich schlafen, zog die Decke über den Kopf und sie krabbelten am Körper; riesige Ratten, zum Teil in der Größe einer Katze. Schaffte man es eine Ratte abzuwerfen, kam schon die nächste.
Лев Пескин с женой Софией и сыном Дмитрием / Lev Peskin mit seiner Frau Sofia und Sohn Dmitrij (2012)
Im August oder Ende Juli brannten die Badajew Lagerstätten nieder, wo alle Lebensmittel Leningrads konzentriert gelagert wurden. Sie brannten eine Woche lang. Alles, was den Menschen blieb, war, die Erde bei den Lagerstätten zu sammeln und sie anschließend zu Hause zu waschen. Damit bekam man süßes Wasser.
In der Zeit des größten Hungers bekamen Kinder und Betreute je 125 Gramm des fürchterlichen gepressten Brotes; sonst gab es nichts. Von dieser Mangelernährung bekamen die Kinder aber auch die Erwachsenen schreckliche Verstopfung. Während der Blockade starben sehr viele Menschen daran. Gut, dass die Mutter sich an ein Mittel dagegen erinnerte: Seife in den Anus.
Kurz vor Anbruch des neuen Jahres 1942 wurde drei Tage überhaupt kein Essen ausgegeben. Es hieß, dass auch die Brotfabrik keinen Strom hatte. Danach gab es nachträglich gepresste «Lebkuchen».
Da man kaum noch Kraft hatte, lag die ganze Familie fast die meiste Zeit. Nichts – nicht mal Kino – interessierte. Was kann auch in einem solchen Zustand interessieren, außer Essen; und ein bisschen – ein ganz kleines Bisschen – Lesen.
Auch die Kommunikation mit anderen Menschen, selbst mit den Nachbarn, kam langsam zum Erliegen. Ging man raus ins Treppenhaus, kriegte man mit, dass wieder jemand gestorben ist.
Evakuierung