Im Februar 1942 besorgte der Bruder der Mutter Papiere, die es der Familie Peskin erlaubten, evakuiert zu werden. Und die Familie Peskin verließ die Stadt: Zu Fuß, bei minus 34 Grad, schlugen sie sich zum Finnischen Bahnhof durch. Von dort ging es mit dem Zug weiter bis zum Ladogasee, wo sie auf Busse umstiegen, die sie über den «Weg des Lebens», den die Deutschen selten beschossen, ans andere Ufer des Ladogasees brachten. Von dort ging es wieder weiter mit dem Zug, genauer gesagt einem Güterwagen mit Regalen und Kanonenöfen. Etwa nach zwei Monaten erreichten sie Alma-Ata. Dort gab es eine Sammelstelle, von der aus die Familie Peskin nach Ust'-Kamenogorsk im Osten Kasachstans weiter geschickt wurde. Bis dahin gab es dort noch kaum Evakuierte. Vor allem lebten dort deportierte Wolgadeutsche.
Die Familie lebte hier anderthalb Jahre in einem Dorf bei Kamenogorsk. Der Bruder wurde in die Armee einberufen und Leva arbeitete als Hirte. Dann kam eine Nachricht von einem anderen Bruder der Mutter und die Familie Peskin zog nach Tscheljabinsk. Auf dem Weg mussten sie in Novosibirsk Halt machen, wo ihnen eine Genehmigung erteilt wurde, ohne die sie nicht nach Tscheljabinsk hätten weiterfahren dürfen.
In Tscheljabinsk befand sich das Traktorenwerk, das während des Krieges Panzer herstellte. Dort arbeitete Lev Peskin bis 1946 als Schlosser. Die anderen Arbeiter zögerten nicht, vor einem von ihnen zu sagen, dass alle Juden von der Front in den Ural geflohen wären und da die größten Schädlinge seien. Wenn es zu Entlassungen kam, waren vor allem Juden davon betroffen. Leva blieb als einfacher Schlosser davon verschont. Wäre er ein Meister gewesen, wäre ihm sofort gekündigt.
Den schlimmsten Eindruck bekam die Familie Peskin von der Stadt Novosibirsk mit ihrem gigantischen Bahnhof. Es lief wieder eine Deportation und der ganze Bahnhof war voller Menschenmassen. Auch in Tscheljabinsk konnte man viele ausgehungerte Menschen sehen. Zweimal im Monat gab es in der Fabrik einen freien Tag, an dem keiner arbeitete.
Auswanderung
Im Jahr 1946 kehrte Lev mit seinen Eltern zurück nach Leningrad. Da der ältere Bruder in der Armee diente, bekam die Familie Peskin als Familie eines Militärdienstleistenden ihre Wohnung zurück. Der einst bester Schüler, der Leva vor dem Krieg war, setzte seine Schullaufbahn fort und schloss sie mit der 10. Klasse im Fernunterricht extern ab. Während dessen arbeitete er als Schlosser im Kirowwerk. Nach dem Schulabschluss begann er neben seiner Arbeit ein Abendstudium an der militär-mechanischen Fachhochschule. Die Fachhochschule schloss er im Jahr 1959 ab und bekam im Kirowwerk sofort eine Stelle als Ingenieur. 1995 ging er in Rente als Leiter der technischen Abteilung.
Zwischen dem Renteneintritt und der Emigration war er als Schöffe im Kreisgericht tätig.
Im Jahr 1964 heiratete Lev Peskin. Sein Sohn, Dimitri, ist ein erstklassiger Programmierer. Selbst als er 2000 nach Freiburg in Deutschland zog, konnte er seinen Beruf wegen der hohen Nachfrage nach Programmierern fortsetzen. 2008 kamen die Eltern nach. Ein großes Bedürfnis, auszuwandern, verspürten sie nicht. Wenn schon, dann nach Amerika, was in ihrem Alter jedoch äußerst schwierig gewesen wäre.
Den Antrag stellten sie 2001. 2005 gab es wohl eine Entscheidung, nach der die Zuwanderung beschränkt werden sollte. 2007 und 2008 wurde wohl die letzte «Welle» von Menschen in Deutschland aufgenommen, die eigentlich für das Land wirtschaftlich keinen Nutzen bringen konnten. Mit dieser Welle zogen die 80 Jahre alten Eltern zu ihrem Sohn nach Deutschland.
Ein halbes Jahr nach ihrer Ankunft lebten sie im Wohnheim und zogen anschließend in eine gute Wohnung. Sie bedauern sehr, dass sie kein Deutsch können, da sie sich damit hier besser fühlen würden. Zwar lernte Lev Deutsch in der fünften Klasse und später in der Abendschule. An der Fachhochschule wurde aber nur ein Jahr Deutsch unterrichtet. Zudem schlecht unterrichtet! Zwar gab Peskin sein Leben lang in Formularen an, er könne Deutsch mit einem Wörterbuch zur Hand. Auch das entsprach indes nicht ganz der Realität. Er versuchte in Deutschland die Sprache nochmal zu lernen, aber das erwies sich als schwierig in dem Alter und angesichts von wenig deutschsprachiger Kontakte. «Hätte ich hier wenigstens als Schlosser gearbeitet, hätte ich die Sprache gelernt!» Mit diesem Gedanken tröstet sich unser Protagonist.
Der Sohn hilft seinen Eltern in allen Belangen und betreut sie in allen Nuancen ihres Lebens in Deutschland, das für sie ungewohnt bleibt. Im Wesentlichen besteht das soziale Umfeld der Eltern aus dem Sohn und dessen Familie. In die jüdische Gemeinde gehen sie mit Vergnügen, aber nur an Feiertagen. Das Bedürfnis nach Religion, welches naturgemäß in der Kindheit entsteht, ist bei den Peskins auch hier nicht entstanden.