Die Geschichte der Lopatnikows, der Verwandten mütterlicherseits, ist nicht minder interessant. Der Urgroßvater war noch Leibeigene und dabei ein sehr begabter Maler. Sein Leibherr, ein Demidow aus dem Gouvernement Pskow, bemerkte das und ließ ihn nach Paris und Italien reisen, damit er sich in der Malerei und Holzschneidekunst ausbilde. Nach zwei Jahren kehrte der Urgroßvater zurück und schnitzte ein prachtvolles Möbelset aus Eiche für die Bibliothek seines Leibherrn, so dass dieser dem Ahnen einen Freibrief ausstellte. Er kam mit der Urgroßmutter nach Petersburg und gründete ein Artel. Im prachtvollen Esszimmer des Journalistenhauses in der Bolschaja Morskaja Straße (ehemalige Stadtvilla des Großfürsten Wladimir) kann man heute noch die von ihm geschnitzten Panneaus aus Eichenholz mit Festons, Obst usw. bewundern. Sie tragen das Brandmal des Urgroßvaters: «Holzschnitzerei des Artels von Nikiforow und Lopatnikow».
Sein Sohn, der Großvater von Nelli Jewgenjewna, absolvierte die Fakultät für Wirtschaftswissenschaften und diente als Hauptökonom beim Baron Nobel. Nahezu alle Millionen von Nobel liefen durch seine Hände! Darüber hinaus führte er Revisionen bei Kommerzbanken durch, bewertete Spenden bei Wohltätigkeitsveranstaltungen und zählte sie durch. Es ist also nicht schwer zu erraten, dass die Einstellung der Lopatnikows der Revolution und den Bolschewiki gegenüber nicht gerade herzlich war. Und als ihre Tochter einen Pozner heiratete, weinte die Oma bitter: Er sei bestimmt ein Bolschewik, das kommt so sicher wie das Amen im Gebet!
Aber Jewgeni Platonowitsch war kein Parteimitglied.
Wer war denn dieser Mann?
Eine geistreiche, charmante und anständige Person. Und dazu ein Künstler! Er erhielt Unterricht bei Kosinzew und Trauberg, war mit Soschtschenko bekannt. Die Texte für seine Auftritte verfasste er meistens selbst, seine beste Nummer hieß «Bouts-rimés». Zu Hause stieg Nelli, ein fünf bzw. sechs Jahre altes Mädchen mit Haarschleife, auf einen Stuhl und sang, tanzte oder sagte Gedichte vor, begleitet von ihrem Vater. Arkadi Raikin, der sie ab und zu besuchte, nannte sie eine «Glanznummer»!..
Ganz anderer Leningrad
Der 22. Juni überrumpelte ihn und seine Tochter in Kislowodsk, wo er Gastspiele hatte. Am Vorabend versprach ihr der Vater, zusammen in den Film «Die schöne Wassilissa» zu gehen. Als er dann verkündete: «Töchterlein, der Krieg hat begonnen», schlug Nelli die Hände über dem Kopf zusammen und sagte mit einer von Tränen erstickten Stimme: «Dachte ich's doch! Das heißt, wir gehen nicht ins Kino!»
Sie begaben sich rasch nach Leningrad zurück. Das war sehr schwierig, denn Militärtransporte gingen von Osten nach Westen, sie beide aber von Süden nach Norden, d.h. querdurch, fahren mussten. Die Reise nahm nicht 2, sondern 20 Tage in Anspruch! Als bei Leningrad deutsche Bomber am Himmel erschienen, nahm sie der Vater vom Wagentritt herunter, legte sie auf den Boden neben die Bahnschwellen und landete auf ihr, um sie mit seinem Körper vor Kugeln zu schützen.
Sie kamen in ein vollkommen anderes Leningrad zurück. Überall gab es Höckersperren, alle Fensterscheiben waren kreuzweise mit weißem Papier beklebt, am Himmel schwebten die Aerostate der Luftabwehr. Der Vater ging ins Militärkommissariat. Als er zurückkehrte, musste die Tochter weinen, weil sie eine Veränderung der väterlichen Gerüche spürte: An die Stelle eines guten Eau de Cologne traten Bauern-Tabak und Schweiß. Als Bühnenkünstler durfte der Vater bleiben und nicht an die Front gehen. Allerdings machte er von dieser Option keinen Gebrauch und meldete sich freiwillig. Er sprach Englisch und Deutsch und war ein guter Organisator.
Der Vater ging an die Karelisch-Finnische Front, wo er sich zunächst zum Flieger ausbilden ließ. Nelli, ihre Mutter und Tante, eine Klavierspielerin und Schülerin von Glasunow, blieben in der Stadt. Am Vorabend des 7. November fiel eine Bombe auf ihr Haus, aber die Wohnung wurde nicht zerstört, nur Fensterscheiben und Türen flogen heraus. Am nächsten Tag fanden die hergeschickten Soldaten die Tür und hängten sie ein, nagelten Sperrholz vor die Fenster, und danach kam das Tageslicht nie in die Wohnung hin, sie wurde nur mit einem kleinen Lämpchen beleuchtet…