Zwei Erlebnisse haben sich im Gedächtnis fest verankert. Einmal gingen Nelli und ihre Mutter Brot holen. Das Brot an sich war furchtbar – schlecht ausgebacken, feucht, schwer, mit Schalen von Sonnenblumenkernen und Lehm. Auf vier Lebensmittelkarten wurden ihnen je 125 Gramm Brot, insgesamt also 500 Gramm, abgegeben: Ein halber Laib und eine Zugabe. Mama drückte das Brot fest an sich, aber plötzlich rannte ein Bube – ein Handwerker – auf sie zu, schnappte ihr das Brot weg und machte sich auf die Socken. Mama schrie, und aus der Nachbarstraße kamen zwei streifende Soldaten und ein Offizier angerannt. Sie holten den Dieb rasch ein und brachten ihn her. Sein ganzer Körper war geschwollen, die Augen eng wie Schlitzen, krampfhaft und total verwirrt kaute er ihr Brot: Es war ihm schon egal, was man mit ihm machen wird – töten oder ins Gefängnis sperren. Seine einzige Bestrebung war, dieses Brot fertig zu kauen! «Dieser?», fragte der Offizier. – «Nein, nicht dieser. Jener war viel größer». Dieser Bube und die Einsicht, dass manche Diebstähle unbedingt verziehen werden müssen, prägte sich das Gedächtnis des 9-jährigen Mädchens für das ganze Leben ein.
Das zweite Erlebnis. Schon während des Krieges brachten sie zwei riesige Bündel schmutziger Wäsche in die Wäscherei. Dann ging es richtig los mit Beschüssen und Bombenangriffen, das Haus wurde zerbombt. Niemand dachte an die Wäsche in der Wäscherei… 1945 erhielten sie plötzlich eine Benachrichtigung per Post: Sie können ihre Wäsche aus der Wäscherei abholen! Damals bestanden die Habseligkeiten der Pozners aus einem einzigen großen Koffer und nun hatten sie plötzlich zwei riesige Bündel Wäsche! Alles war gestärkt und schneeweiß – Omas Tischdecken, Steppdecken und sogar drei Konzerthemden. Was für ein Reichtum! Was für bewundernswerte Moralvorstellungen! Während der Blockade herrschte in Leningrad trotz alledem Disziplin, die Menschen waren mut– und verantwortungsvoll – deswegen hielt die Stadt durch.
Während der Blockade kamen 11 Familienmitglieder von Nelli Jewgenjewna ums Leben. Sie und ihre Mutter wären auch ums Leben gekommen, aber der Vater ließ es nicht geschehen. Er leierte keinem Geringeren als Marschall Merezkow eine Dienstreise von der Karelisch-Finnischen an die Leningrader Front aus dem Kreuze und brachte seine Familie und die Familie eines Obersten ins Stabsquartier. Als Nelli aus der sonnenlichtlosen Wohnung nach draußen getragen wurde, schrie sie laut, weil der Schnee ihr die Augen stach: «Augen! Augen!». Die Mutter wickelte ihr einen Schal um den Kopf, und das Mädchen konnte wieder nichts sehen.
Dann begegnete ihnen ein Unglück… Der Vater wurde verleumdet, des Verrats bezichtigt und sogar zum Tode durch Erschießen verurteilt. Aber es wurde über die Angelegenheit nachgeforscht und er wurde aus dem Gefängnis entlassen. Vollkommen graue Schläfen, keine Schulterstücke, keine Orden, kein Koppel, die Uniformjacke schlappt… Er betrat das Zimmer, setzte sich hin und brach in Tränen aus. Nach dem Krieg war er angeschlagen. 1970 starb er, er wurde keine 67 Jahre alt… Die Mutter, eine Überlebende der Blockade von Leningrad, wurde 80 Jahre alt und verstarb 1982.
Schauspielerin, Erzieherin, Touristenführerin
Nach dem Krieg zersplitterte Nellis Leben in zwei Teile. Der erste ganz winzige Lieblingsteil war die Bühne, das Theater. Mit 12 Jahren tanzte sie schon eine Solorolle im Mariinski-Theater – die Puppe im «Nussknacker». Scheinbar hatte sie Glück. Aber das war nur einmal.
Buchstäblich nach zwei Monaten zog sich Nelli eine Lungenentzündung zu: Dreimal hintereinander. Dann erkrankte sie an einer Tuberkulose – das Ballett konnte man vergessen. Aus dem feuchten Leningrad brachte man das Mädchen nach Galitsch in der Oblast Kostroma, eine sehr alte Stadt, älter als Moskau. In Galitsch war die Tante für den Chor und im Grunde genommen für alles, was irgendwie mit Musik verbunden war, zuständig. Sie brachte der erwachsen werdenden Nelli die Tanzregie, die Inszenierung einzelner Szenen und dann ganzer Stücke bei. Mit 16 Jahren brachte sie z. B. die «Polowetzer Tänze» auf die Bühne.
1950 fand der Allsowjetische Wettbewerb der Kindervolkskunstgruppen statt. Das Abschlusskonzert im Moskauer Haus der Sowjets, das von Nelli eröffnet wurde («Glanznummer!»), besuchte unerwartet Stalin. Und Nelli musste noch das Gedicht von Issakowski «Ein Wort an Genosse Stalin» («Genosse Stalin, wie wir Ihnen glaubten, so haben wir nicht mal uns selbst geglaubt») vortragen.
Hier möchten wir wiederholen, dass Nelli nicht zur Bühnenkünstlerin wurde – sie schaltete innerlich auf die Regie um. Als sie aber mit 30 Jahren das Studium an der Fakultät für Regie des Leningrader Krupskaja-Kulturinstituts aufnahm, wurde ihr mit aller Deutlichkeit bewusst, dass dieser Zug auch schon fort war.