Noch eine Episode: Eine nächtliche Razzia. Man hört Lärm und die deutsche Sprache. Als die Soldaten ganz nah waren, versteckte die Mutter den Sohn unter dem Bett und rannte, um die Deutschen abzulenken. Sie rannten ihr nach und schossen auf sie. Zum Glück begab sie sich in Richtung Gemüsegärten, fiel in einen der Schützengraben, und die Nazis glaubten, sie getötet zu haben. Als alles vorbei war und Stille eintrat, kam die Mutter nach Hause zurück, holte den Jungen unter dem Bett hervor und beruhigte ihn. Solche Nächte erlebte Arkadi damals im Ghetto. Er erinnert sich immer noch daran.
Noch ein Vorfall ereignete sich kurz vor Kriegsende. Alle Bewohner des Hauses versammelten sich im größten Zimmer. Plötzlich hörten sie lautes Gekracht und Klopfen an den Türen und Fenstern. Alle warfen sich zu Boden. Die Soldaten – es waren Rumänen – beginnen, die Fenster zu beschießen. Im Zimmer liegt eine aus den Angeln gehobene Innentür auf dem Boden. Die Oma lehnt diese Tür an die Wand und versteckt das Kind dahinter. Ein alter Jude, der Rumänisch kann, geht nach draußen und verhandelt mit den Soldaten. Nach einer Zeit kommt er zurück und meint,man müsse ihnen etwas geben. Jeder gibt, was er kann – freigekauft!
Einmal verschwand der kleine Abram. Es dauerte eine Weile, bis man ihn auf einem Markt fand, wo jüdische Frauen allerlei Selbstgemachtes, Selbstgebackenes wie Brötchen, Piroggen und alles Mögliche verkauften. Als die Mutter angerannt kam, bot sich ihr folgendes Bild: Ihr Sohn steht von vielen Frauen umgeben und singt jüdische Lieder! Die Frauen um ihn herum weinen und schenken ihm, was sie können.
Die Mutter, die schon deswegen glücklich, dass ihr Sohn gefunden wurde, geht mit ihm nach Hause.
Die Wörter des schönsten Lied hat Abram schon vergessen, nur die Melodie und den Anfang hat er noch in Gedächtnis: Es ginge da um ein kleine «Kinderle»…
Inzwischen begannen die Deutschen abzuziehen, und die sowjetische Armee näherte sich Balta. Man hörte schon Kanonendonner aus der Ferne. Das Haus in der Kusnetschnaja Straße stand leer: Alle hatten Angst davor, an den letzten Besatzungstagen hingerichtet zu werden, und versteckten sich. Die einen Hausbewohner stiegen in den Keller hinab, die anderen (unter ihnen die Weinbergs) stiegen auf den Dachboden hinauf.
Аркадий Вайнберг во Владимире-Волынском – рядовой музыкального взвода (1959) / Arkadij Weinberg in Vladimir-Volynskij – Soldat des Musikzuges (1959)
Durch das Fenster konnte man sehen, wie ein Partisan vor das Haus angereitet kam. Er trug keine Uniform, hatte ein Gewehr hinter dem Rücken und trug eine Mütze mit schräg verlaufendem rotem Streifen. Der Partisan machte einen Bravourritt, blickte herum und jagte fort. Niemand der Ghettobewohner eilte ihm entgegen. Kurz danach traten reguläre Truppen in die Stadt ein, und die Freude der Ghetto-Gefangenen war grenzenlos. Sie überlebten, sie blieben verschont – drei Jahre voller Angst sind vorbei, jetzt brauchen sie niemanden mehr zu fürchten, können ruhig durch die Straßen gehen und sich dort niederlassen, wo es ihnen passt.
Aber der Krieg dauerte fort: Es blieb noch ein ganzes Jahr bis zum Sieg. Es kam ein Brief vom Vater: Er sei am Leben, er kämpfe, und das war eine große Freude. Dann erlebten sie diesen unvergesslichen Tag mit. Mitten in der Nacht begann man zu schießen, die Leute liefen herum und riefen: «Der Sieg, der Sieg ist da!»
Als der Vater nach ein paar Monaten demobilisiert wurde und nach Hause zurückkehrte, wendete sich alles allmählich zum Guten. Obwohl die Erinnerungen ans Ghetto nicht verblassten, rückten sie in den Hintergrund. Der Vater brachte aus dem Krieg eine Geige, und ein alter Violinist brachte Abram das Geigenspielen und Notenlesen bei.
Nach dem Krieg leitete der Vater ein Kraftwerk: er baute es wieder auf und setzte es in Betrieb. Dann wurde er zum Leiter eines Betriebs für Aufkauf von wiederzuverwertenden Schwarzmetallen, dann zum Leiter eines Brennstofflagers eingestellt.
Er begann sogar etwas mehr zu verdienen.
Nach Schulabschluss ließ sich Arkadi an der technischen Fachschule Odessa immatrikulieren und machte eine Ausbildung zum Former und Gießer: Gießer verdienten angeblich gut. Nach Ausbildungsabschluss arbeitete Abram in einem Werk. Bald erhielt er die Einberufung zum Pflichtwehrdienst. Im Fragebogen gab Abram an, Geige spielen zu können und Noten zu kennen. Den gesamten Wehrdienst, den er von 1957 bis 1960 in Deutschland und in Wolodymyr-Wolynskyj ableistete, verbrachte er nicht in einem Panzer, sondern in Miltärorchestern. Er spielte Flöte und Schlaginstrumente…