»Vielen Dank.« Pendergast nickte, schlüpfte an ihm vorbei und ging zur Garage, während er seinen Mantel zuknöpfte.
Nur 48 Minuten später bog er von der Route 25A auf die Old Dock Road ab, die mitten durch das weitläufige Gelände des King’s Park Psychiatric Center führte. Es war jetzt fast neun, dunkel und bitterkalt. Er lenkte den großen Wagen über die verlassene Straße, an beiden Seiten zogen die dunklen Umrisse von Gebäuden, verriegelt und verlassen, vorbei.
Er fuhr langsamer, machte eine Kehre, steuerte den Silver Wraith über den Bordstein, schaltete das Scheinwerferlicht aus, fuhr dann eine kurze Strecke über den gefrorenen Boden und stellte den Wagen hinter einer Baumgruppe ab, wo er von der Straße her nicht zu sehen war. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite erhob sich eine Gruppe von Gebäuden, die seine Karte als GRUPPE 4 oder KOLLEGHOF markierte, in der einst die geriatrischen Patienten untergebracht waren. Zur Rechten, zweihundert Meter hinter dem Maschendrahtzaun, der das Gelände umschloss, ragte ein sehr großes, neun Stockwerke hohes Gebäude auf, das auf der Karte als GEBÄUDE 93 eingezeichnet war und dessen Giebel und Türme sich deutlich vor dem Nachthimmel abhoben. Die gewaltige Fassade war in ein gespenstisches Mondlicht getaucht und durchsetzt von leeren, tiefschwarzen Fenstern, die auf das eisige Parkgelände hinausgingen, als wären es die Augen eines vieläugigen Monsters. Während Pendergast das Gebäude betrachtete, vernahm er ein Geflüster, spürte er einen Schauder der Erinnerungen an die Patienten, die hier drin eingesperrt worden waren, plappernd, weinend, jenseits der Verzweiflung, unterworfen experimentellen Arzneimitteltests, Lobotomien, Elektroschockbehandlungen und vielleicht Schlimmerem. Über den Mauerzinnen erhob sich ein großer Mond, verschleiert von den schnell am Himmel dahinziehenden Wolken.
Versteckt im riesigen Schatten von Gebäude 93 lag, wie Pendergast aus der Karte wusste, das viel kleinere einstöckige Gebäude, bekannt als Gebäude 44. Hier würde er den Enthaupter finden.
Er stieg aus und schloss leise die Tür, wobei er sich vergewisserte, dass niemand auf der Straße war. Dann näherte er sich dem Zaun. In seiner behandschuhten Hand tauchte eine Drahtzange auf; nach zwei Minuten hatte er in den billigen Maschendrahtzaun eine Öffnung geschnitten, groß genug, um sich dort hindurchzuzwängen, ohne dass sich sein heiß geliebter Mantel daran verfing und einriss. Er schlüpfte durch die Öffnung, ging leise über den hart gefrorenen Boden, während sein Atem weiß im Mondlicht hauchte. Er kam an Gebäude 29 vorbei – einem Kraftwerk, erbaut in den frühen 1960er-Jahren, jetzt rostend und verlassen wie alles andere. Dahinter stieß er auf eine aufgelassene Bahntrasse und folgte ihr bis zu der Stelle, wo sie an der Laderampe von Gebäude 44 endete.
Pendergasts Recherche hatte gezeigt, dass es sich bei Gebäude 44 um ein Lagerhaus zur Aufbewahrung von Lebensmitteln für das psychiatrische Zentrum gehandelt hatte. Das kleine Gebäude war verschlossen, die Fenster waren mit Spanplatten und Blech verrammelt, die Türen verschlossen und verriegelt. Durch die Ritzen drang auch nicht der geringste Lichtschein.
Noch einmal sah er sich kurz um, dann sprang er leichtfüßig auf die Laderampe des Gebäudes am Ende der Bahntrasse. Er packte einen Griff und zog, wobei er das unvermeidliche Quietschen des rostigen Metalls auf ein Mindestmaß verringerte, langsam das Tor auf, bis es gerade hoch genug war, dass er darunter hindurchschlüpfen konnte. Er wartete, horchte. Aber von drinnen war nichts zu hören.
Er stand in einem großen Ladebereich, der bis auf einen Stapel mit Spinnweben überzogener Packkisten aus Holz in einer Ecke leer war. Geradeaus, hinter dem breiten Boden aus rissigem Beton, in der gegenüberliegenden Wand, stand eine Tür offen. Dahinter war ein ganz schwacher Lichtschein auszumachen. Das Ganze schien eine Falle zu sein – was Pendergast von Anfang an geahnt hatte.
Eine Falle, die ihm gestellt worden war. Aber manchmal funktionierten Fallen auch andersherum.
Er blieb stehen und sah auf die Uhr. Es war zwei nach neun – noch drei Minuten, bis die Deadline ablief.
Leise überquerte er die weite Fläche des Ladebereichs und näherte sich der Tür. Er legte die Fingerspitzen darauf und drückte sie langsam weiter auf. Dahinter lag ein schmaler Gang, von dem auf beiden Seiten Türen abgingen. Aus einer der fast geschlossenen Türen zur Rechten drang der Lichtschein, der den Gang schwach erhellte. Es war totenstill.
Pendergast zog seine Les Baer, schlüpfte durch die Tür und ging über den Gang, bis er die beleuchtete Tür erreichte. Er wartete einige Augenblicke, um sich zu vergewissern, dass dort alles ruhig war. Dann legte er die Handfläche auf die Tür, stieß sie abrupt auf, trat mit gezückter Waffe vor und nahm den Raum ins Visier.