Seine unregelmäßige Flucht führte Pendergast in einen großen Raum. Dort blieb er stehen, um zu verschnaufen und über den nächsten Schritt nachzudenken. Er befand sich irgendwo im hinteren Teil des Krankenhauses, wieder im Erdgeschoss. Und während er um sich blickte, wurde ihm klar, dass er sich in einer Art Handarbeitsraum beziehungsweise Werkstatt befand. Auf einem langen Tisch aus Kunststoff lagen hier und da halb fertige Arbeiten, die Zeit und Ratten hatten sie verwüstet. Rasch suchte er den Raum nach etwas Nützlichem ab. Auf einem kleinen Webstuhl lag ein verrottetes Weberschiffchen; an ein Korkbrett waren kindische Aquarelle gepinnt; auf einem Tisch lagen geschrumpfte Klumpen Modellierlehm, halb geformt zu grotesken Formen, auf einem anderen verbogene Plastikstricknadeln mit halb beendeten Schals. Am gegenüberliegenden Ende des Raums umstanden mehrere Stühle ein klobiges 1950er-Fernsehgerät, die Bildröhre explodiert und in Scherben auf dem Boden liegend.
Pendergast nahm mehrere halb zu Ende gestrickte Schals in die Hand, zog die Stricknadeln heraus und band sich die Schals um die Füße. Im Weitergehen konnte er in der Spur, die er hinterlassen hatte, eine Verbesserung erkennen: Die Fährte war noch schwach sichtbar, zwischen den Abdrücken früherer Besucher jedoch schwer zu lesen. Jedoch machte er sich keine Illusionen: Ozmian war sicherlich in der Lage, auch dieser Spur zu folgen, auch wenn das größere Aufmerksamkeit erfordern würde. Dadurch konnte Pendergast ein wenig Zeit gewinnen.
Jetzt ging er in westliche Richtung, auf den zerstörten Gebäudeflügel zu, wobei er so behutsam wie möglich auftrat. Während er ein Zimmer nach dem anderen passierte, einen Gang nach dem anderen, eine Biegung nach der anderen, wurde der beißende Geruch des ehemaligen Brandes immer stärker. Und als er dann durch eine Küche ging, gelangte er auf einen Flur, der unverkennbar in den abgebrannten Gebäudeflügel führte. Mittlerweile befand er sich so weit entfernt von Ozmian, dass er seine Taschenlampe einsetzen konnte. Er schaltete sie ein und richtete den Lichtstrahl auf das rauchgeschwärzte Innere.
Was er dort sah, ließ ihn stutzen. Die Wände waren schief und krumm, manche teilweise eingestürzt. Die Decken waren heruntergekommen und hatten Haufen verkohlter Holzbalken und aufgeplatzte Betonpfeiler zurückgelassen, aus denen verbogene Gewirre von Bewehrungsstäben ragten. Und das war nur der erste Stock, acht Stockwerke waren darübergestapelt, kaum aufrecht gehalten von diesen instabilen Mauern. Während Pendergast die Schäden in Augenschein nahm, wurde ihm klar, dass das Feuer nicht sehr lange zurücklag – vermutlich hatte es hier erst im vergangenen Jahr gebrannt.
An eine Mauer in der Nähe war ein selbst gemachtes Schild, vollgeschrieben mit Silbermarker auf einem angekohlten Stück Sperrholz, genagelt worden.
Nach kurzem Zögern betrat Pendergast das dunkle, übel riechende Labyrinth.
60
Ozmian ließ sich Zeit, während er der Fährte folgte, und genoss die Pirsch in vollen Zügen. Er hatte es nicht eilig. Die Zeit arbeitete für ihn. Zwar hatte ihn sein Wild bislang enttäuscht, doch Pendergast war schlau und gefährlich, und es wäre verhängnisvoll, ihn zu unterschätzen. Und er lernte. Er wurde besser.
Die lange, mäandernde Verfolgungsjagd führte ihn schließlich zu dem Handarbeitsraum. Merkwürdigerweise hatte er keine Erinnerung an diesen Raum, auch nicht daran, dass er während seiner Zeit im King’s Park ein Handwerk ausgeübt hatte. Wie auch immer, der Raum war höchst beunruhigend – noch immer lagen auf den Tischen die letzten unvollendeten Arbeitsvorhaben der Patienten – halb gestrickte Schals, Lehmköpfe, furchtbare Aquarelle, die jämmerlichen Hervorbringungen missgestalteter Hirne. Die Fährte führte am Tisch mit den Schals vorbei, und sofort ahnte Ozmian, was passiert war: Pendergast hatte sich ein paar der Schals geschnappt und sich um die Füße gewickelt, um so eine schwächere, diffusere Fährte zu hinterlassen.
Ein kluger Schritt.