Das Einzige, was ihn wirklich verwunderte, war der Umstand, dass keine Polizei zu sehen war. Zugegeben, das ursprüngliche Feuer war nahezu erloschen, aber eine Menschenmenge von dieser Größe, die sich spätabends ohne Genehmigung auf dem Great Lawn versammelte, müsste doch die Aufmerksamkeit der Strafverfolgungsbehörden auf sich ziehen. Doch es hatte keinerlei Hinweise darauf gegeben, dass die Polizei anrückte. Komischerweise empfand Swope das als enttäuschend, denn es war seine Absicht, sich den staatlichen Ordnungskräften entgegenzustellen und jede Unterbrechung des Fegefeuers zu verhindern – falls nötig, sogar mit seinem Leben. Ein Teil von ihm sehnte sich nach Märtyrertum, so wie sein Held Savonarola.
An einer Seite war es zu einem Gerangel gekommen. Plötzlich näherte sich durch die Menschenansammlung eine Frau. Sie war Ende dreißig, attraktiv, trug eine schlichte Daunenjacke und hielt in einer Hand irgendetwas, das wie Gold glänzte. Die Frau hielt den Gegenstand in die Höhe, als wollte sie ihn auf den Haufen werfen, dann aber drehte sie sich zu Swope um.
»Sind Sie der ›leidenschaftliche Pilger‹?«
In den vergangenen eineinhalb Stunden waren Leute zu ihm gekommen, um ihm die Hand zu schütteln, ihn zu umarmen, ihm tränenreich für seine Vision zu danken. Es war eine Erfahrung in Demut gewesen.
Er nickte ernst. »Ja, ich bin der Pilger.«
Die Frau schaute ihn einen Moment lang ehrfürchtig an und streckte die Hand aus, um seine zu schütteln. Dabei öffnete sie die Hand, wobei jedoch nicht ein Stück Goldschmuck oder eine goldene Uhr zum Vorschein kam, wie Swope es erwartet hatte, sondern eine goldfarbene Polizeimarke. In diesem Augenblick ergriff die Frau seine Hand mit ihrer anderen Hand, und er spürte, wie sich ein kalter stählerner Verschluss darumlegte.
»Captain Hayward, NYPD. Sie sind verhaftet.«
»Wie bi…?«
Doch plötzlich packte ihn die Frau, die nicht besonders kräftig oder reaktionsschnell wirkte, mit irgendeiner Art Kampfsportgriff, drehte ihn blitzartig um, zog ihm die Hände auf den Rücken und legte sie in Handschellen. Das alles geschah in Sekundenschnelle.
Mit einem Mal war der Great Lawn in grelles Licht getaucht. Die in den Bäumen um die Grünfläche herum versteckten Halogenstrahler waren eingeschaltet worden und erhellten den Scheiterhaufen. Und jetzt begann eine große Anzahl von Fahrzeugen – Streifenwagen, Kastenwagen mit Sondereinsatzkommandos, Feuerlöschzüge – mit eingeschalteten Blinkleuchten und jaulenden Sirenen über den Rasen auf die Gruppe zuzurollen. Weitere Polizisten liefen herbei und sprachen dabei in ihre Funkgeräte.
Die Brüder um Swope herum, die sich verwundert umblickten, als sie die Razzia bemerkten, zauderten, gingen auseinander – und begannen schließlich, zurückzuweichen und sich zu zerstreuen. Die Polizei ließ sie laufen.
Das Ganze spielte sich so schnell ab, dass Swope es zunächst nicht begreifen konnte. Doch als die Frau ihn durch das Chaos vorwärtsstieß bis zur Aufstellung der Polizei, wurde ihm langsam klar, was passiert war. Die Polizeibeamten hatten sich leise zwischen den Bäumen versammelt. Statt einen Aufstand zu provozieren, indem sie kraftvoll agierten und ihn verhafteten, hatten sie eine Kriminalbeamtin in Zivil entsandt. Und jetzt, wo er in Handschellen lag, kamen die Beamten schließlich, Megafone in den Händen, hervor und forderten die Menschen auf, friedlich auseinanderzugehen. Gleichzeitig kam ein Feuerwehrteam herüber, einen Wasserschlauch hinter sich herziehend, spritzte Wasser auf den Haufen schwelender Wertgegenstände und löschte alles.
Vor ihm ragte ein Fahrzeug von der Art auf, mit denen man Gefangene beförderte. Die Hecktür ging auf, die Polizistin in Zivil packte Swope am Ellbogen und hob ihn auf die Metallstufe. Während sie half, ihn in den grünen Gefangenentransporter zu bugsieren, sagte sie: »Bevor Sie abtransportiert werden, möchten Sie vielleicht noch einmal einen Blick auf Ihre Anhänger werfen.«
Swope drehte sich um, um ihnen einen Abschiedsblick zuzuwerfen, doch was er dort sah, schockierte ihn. Was Augenblicke zuvor noch eine friedliche, gebetsvolle Versammlung gewesen war, war zu einem Krawall ausgeartet. Trotz der Megafonansagen der Polizei war eine große Anzahl seiner Anhänger nicht auseinandergegangen. Sie waren zu Plünderern geworden, hatten sich um den Scheiterhaufen versammelt, zogen Gegenstände daraus hervor und steckten sie ein, während die Polizisten überrascht und laut rufend hinter ihnen herliefen. Jetzt stürmten Hunderte, vielleicht Tausende auf den erloschenen Scheiterhaufen der Eitelkeiten, so viele, dass die Polizeibeamten kurzfristig überfordert waren. Die Leute packten Geld und Silberbarren und Inhaberobligationen und Schmuck und Armbanduhren und Schuhe, fieberhaft plünderten sie eben jenen Haufen der Eitelkeiten, den sie hatten verbrennen wollen, und dann eilten sie mit ihrer Beute in das Dunkel zwischen den Bäumen davon, johlend vor lauter Freude und Triumphgefühl.
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