Doch im Lauf der Zeit war es immer schwieriger geworden, so etwas zu erleben – bis er zurückgekehrt war und schließlich damit angefangen hatte, Menschen zu jagen. Er hoffte nur, dass er diesen hier nicht allzu bald erlegen würde.
Im achten Stock schaltete er kurz die Taschenlampe ein, inspizierte die Treppenstufen und entdeckte zu seiner Freude die Spur seiner Beute. Und im neunten Stock bestätigte eine weitere kurze Untersuchung, was er sich bereits gedacht hatte – das Wild hatte das Treppenhaus verlassen und war den langen Flur des Ostflügels hinuntergegangen.
Ozmian blieb auf dem Treppenabsatz stehen, hielt den Atem an und horchte. Hier oben wehte ein kalter Wind, klagend pfiff er um das Gebäude, was eine Klangschicht hinzufügte, die die leiseren Geräusche seiner Bewegungen überdeckte. Vorsichtig ging er zum Rand des Durchbruchs, der in den Gang führte, wo eine Stahltür schräg in ihren rostigen Angeln hing, und spähte durch den Spalt zwischen Tür und Türrahmen, der ihm einen Blick den Gang hinunter erlaubte. Der Notausgang, der diesen Gebäudeflügel absperrte und die Patienten nachts einkerkerte, war vor langer Zeit von Stadterkundern herausgerissen worden und lag zerbrochen auf dem Fußboden. Fahles Mondlicht fiel in den Gang und spendete gerade so viel Licht, dass man etwas erkennen konnte. Der Gang erstreckte sich durch den gesamten Ostflügel und endete vor einem weit entfernten Fenster, in dem groteskerweise eine verwelkte Topfpflanze stand. Ein zerfetzter Vorhang flatterte im Wind wie eine weiße winkende Hand. Auf beiden Seiten befanden sich Türen, sie führten in die winzigen Zellen, an die er sich so deutlich erinnerte, im Grunde nichts weiter als Gefängniszellen, jede mit eigenem Bad und WC. Er erinnerte sich, dass seine Zelle, so wie diese, gepolstert gewesen war, die Wände befleckt mit dem Schmutz, dem Nasenschleim und den Tränen ihrer einstigen Insassen.
Schnell unterdrückte er den erneuten Schock der Erinnerung.
Ozmian bewegte sich unendlich leise und behutsam – für den Fall, dass sein Wild wieder einen Hinterhalt gelegt hatte –, schlüpfte in die Schatten und schlich mit dem Rücken zur Wand die dunkle Seite des Gangs entlang. Er traute sich, mit der Taschenlampe ganz kurz auf den Boden zu leuchten, wo er unter den anderen erneut die frische Fährte seines Jagdwilds ausmachte, die auf das andere Ende des Gebäudeflügels zusteuerte. So wie er, hatte auch Pendergast die Schuhe ausgezogen, um beim Gehen nicht so viele Geräusche zu machen.
Mit der Waffe in der Hand, an der Wand entlanggehend, setzte Ozmian die Pirsch fort. Am Ende des Flurs sah er, dass Pendergasts Fußabdrücke in eines der Zimmer abbogen. Und die Tür war geschlossen. Erstaunlich, dass er das hinbekommen hatte, ohne Lärm zu machen.
Interessant. Der Mann hatte sich gar nicht bemüht, seine Spuren zu verwischen, obwohl er doch wusste, dass er, Ozmian, hinter ihm her war. Das alles bedeutete, dass Pendergast einen Plan hatte, höchstwahrscheinlich wollte er ihn abermals in einen Hinterhalt locken. Aber was für einen? Vermutlich einen, der selbst im Fall des Scheiterns das Blatt wenden und den Verfolgten zum Verfolger machen würde.
Ozmian verharrte kurz vor der geschlossenen Tür, dann trat er einen Schritt zurück. Die Tür war aus Metall und offenbar so massiv, dass sie selbst der irrwitzigsten Attacke widerstehen konnte, auch wenn die Angeln inzwischen korrodiert und kaputt waren und die Schrauben aus dem Metall hervorragten. Aber er wusste ja, dass man diese Tür nicht von innen abschließen konnte, nur von außen.