Wieder begann Ozmian, langsam auf und ab zu gehen. »Weil er schlau ist und weiß, wie schlau ich bin, wird er weiter nachdenken. Und er wird zu dem Schluss kommen, dass die geölten Türangeln in Wahrheit eine List darstellen. Er wird glauben, dass ich die Türangeln geölt habe, um ihn in dem Irrglauben zu lassen, dass ich das Gebäude durch den hinteren Ausgang verlassen werde.«
Nachdenklich machte er einige weitere Schritte. »Und was tut er also? Er observiert die vordere Tür!« Leises Gekicher. »Okay, jetzt überwacht er also die vordere Tür. Aber von welchem Beobachtungsposten aus? Wie jeder Jäger weiß, erwartet Großwild normalerweise keinen Angriff von oben. Jagd auf Rotwild machte man deshalb zum Beispiel am besten von einem Hochsitz aus.« Langsame Schritte. »Menschen sind wie Hirsche. Sie denken nicht daran, hochzuschauen. Und so steigt Agent Pendergast also in die große abgestorbene Eiche vor dem Gebäude, hervorragend positioniert und in tiefem Schatten wartend. Ich sage voraus, dass er in jenem Baum sitzt, während wir uns hier unterhalten, die Waffe auf die Tür der Laderampe richtet und darauf wartet, dass ich dort das Gebäude verlasse.«
Keine Logik, ganz gleich wie aufwendig, dachte D’Agosta, kann diesem Hundesohn den Arsch retten. Pendergast würde ihn überlisten, und das an jedem Punkt dieser »Jagd«. Der Kerl würde keine fünf Minuten überleben.
»Und deshalb ist mein Schritt folgender: Ich werde zur hinteren Tür hinausgehen, um das Gebäude herum, bis zu einer mit Buschwerk überzogenen kleinen Erhebung rechts davon – und Ihren Partner im Baum abknallen.« Ein freudloses Lächeln. »Wenn meine Argumentation korrekt ist, dürfte Ihr Partner in …«, er sah auf die Uhr, »… zwei Minuten und zwanzig Sekunden tot sein.«
Ozmian blieb stehen, er ging jetzt nicht mehr weiter auf und ab, sondern beugte sich oberhalb des enthaupteten Kopfes und der gefrorenen Blutlache über den Tisch. »Ich hoffe bei Gott, dass ich mich irre. Ich hoffe, Ihr Freund ist intelligenter. Sollte die Jagd vorzeitig enden, würde mir das eine herbe Enttäuschung bereiten.«
Er drehte sich um, schlug sich auf die Kleidung, überprüfte alles ein letztes Mal, dann verneigte er sich knapp. »Und nun verabschiede ich mich … durch die Hintertür. Wenn Sie auf der Rückseite des Gebäudes Schüsse hören, dann wissen Sie, dass er mich überrumpelt hat. Wenn Sie andererseits auf der Vorderseite Schüsse hören, dann wissen Sie, dass sich mein Szenario bewahrheitet hat.«
Und damit wandte er sich um, ging zur Tür und entschwand in einen Gang, der zur Rückseite des Gebäudes führte.
D’Agosta wandte sich der Uhr zu, die Ozmian auf den Tisch gestellt hatte. Die zehnminütige Wartezeit war vorüber. Er wartete und lauschte auf die Schüsse, von denen er sicher war, dass sie von der Rückseite her kommen würden, wenn Pendergast Ozmian aus dem Hinterhalt attackierte, sobald dieser aus dem Gebäude trat. Doch es waren keine Schüsse zu hören. Mehrere Minuten verstrichen, bis die Stille schließlich von zwei Schüssen durchbrochen wurde. Sie kamen von der Vorderseite.
55
Als er über den gefrorenen Boden lief, merkte Pendergast, dass er seinen ersten Fehler begangen hatte, der ihn beinahe das Leben gekostet hätte. Als er im Baum gewartet und sich die vordere Tür nach dem zehnminütigen Vorsprung nicht geöffnet hatte, begriff er sofort, dass er sich getäuscht hatte. Also war er im Wissen, dass er eine lebende Zielscheibe abgab, von dem Ast heruntergesprungen – im selben Augenblick, als von dem mit Unkraut bewachsenen kleinen Hügel her zwei Schüsse erklangen, die genau dort, wo er sich in der Hocke sitzend versteckt hatte, in den Baumstamm einschlugen.
Er erwischte den unteren Ast, gerade als er daran vorbeistürzte, schwang die Beine nach vorn, landete auf dem Boden und lief los. Als er nach hinten blickte, sah er Ozmian aus den Büschen hervorstürmen und hinter ihm hersprinten, die Waffe in der Hand, ihm dicht auf den Fersen. Nicht nur hatte er einen Fehler begangen, sondern er hatte auch seinen kostbaren zehnminütigen Vorsprung vergeudet, der ihm erlaubt hätte, Gebäude 93 dort zu betreten, wo er wollte. Ozmian hatte offensichtlich seine Argumentationskette antizipiert und ihn überlistet.
Pendergast spurtete weiter, auf die Ostseite von Gebäude 93 zu, wo es eine Lücke in dem durchlöcherten Maschendrahtzaun zu geben schien. Der Westflügel war, wie er erkannte, zum Teil abgebrannt. Rußstreifen, herrührend vom Brand, erhoben sich aus schwarzen Fensterrahmen. Ein großer, breiter Riss verlief in der Fassade, wie bei einem gigantischen Haus Usher, und durchzog alle neun Stockwerke. Im Laufen arbeitete Pendergasts Verstand auf Hochtouren; entsetzt und gedemütigt vom Umstand, dass er seinen Gegner unterschätzt hatte, bewertete er seine verschiedenen Handlungsmöglichkeiten. Das einzig positive Ergebnis des Scharmützels war, dass der Gegner zwei Schuss vergeudet hatte. Ozmian besaß noch fünfzehn, er siebzehn.