Ein Gebäude wie dieses musste mehrere Treppenhäuser haben, in der Mitte und an den Seiten. Pendergast löste sich von dem Pfeiler, durchquerte den Speisesaal, vergewisserte sich, dass die Luft rein war, und ging durch einen Flur in den östlichen Teil des Krankenhauses. Während er den düsteren Gang entlanglief, hörte er die kleinen Stücke abgeblätterter Farbe unter seinen Füßen knirschen. Am Ende des Flurs blickte er durch zwei doppelflügelige Türen, eine davon offen stehend, das Treppenhaus, das er zu finden gehofft hatte. Er betrat den Raum dahinter – das Treppenhaus hatte keine Fenster und war dunkel wie eine Höhle – und blieb erneut stehen, um zu lauschen. Er rechnete damit, schon bald die Schritte seines Verfolgers zu hören, doch auch mit seinem extrem guten Hörvermögen nahm er keinerlei Geräusche wahr. Weil er dennoch sicher war, dass er verfolgt wurde, und zwar von einem Könner, packte er das Eisengeländer der Treppe und stieg zwei Stufen auf einmal nehmend hinauf in das übel riechende, kalte, pechschwarze Dunkel.
56
Ozmian wartete im Stockdunkeln unten im Treppenhaus und lauschte, während er die Treppe hinaufstieg, auf die leise verklingenden Schritte Pendergasts. Dabei zählte er die Schritte. Offenbar nahm Pendergast zwei Stufen auf einmal, was sich an der leichten Verzögerung zwischen den Schritten ablesen ließ. Ohne Zweifel begab er sich auf »hohes Gelände«, eine kluge, wenn auch vorhersehbare Entscheidung.
Das Betreten von Gebäude 93 nach all den Jahren hatte bei Ozmian überraschend tief reichende Gefühlsreaktionen ausgelöst. Zwar war die Erinnerung an jene Zeit fast völlig verblasst, doch als er die Cafeteria betrat, war der unterschwellige Geruch des Ortes noch immer da gewesen und hatte einen unerwarteten Ansturm von Erinnerungen an jene furchtbare Zeit in seinem Leben ausgelöst. So intensiv war die Flut der Erinnerungen – die sadistischen Pfleger, die vor sich hin brabbelnden Mitpatienten, die lügenden, lächelnden Psychiater –, dass Ozmian taumelte, als die Vergangenheit auf diese fürchterliche Art in die Gegenwart eindrang. Aber nur einen Augenblick lang. Mit ungeheurer Willensanstrengung drängte er die Erinnerungen zurück in den Bunker seines Gedächtnisses und konzentrierte sich erneut auf die Pirsch. Die damalige Erfahrung hatte ihm eine jähe Erkenntnis geschenkt. Er hatte diesen Ort ausgewählt als eine Art Exorzismus, als eine Möglichkeit, die Geister jener Zeit ein für allemal zu vertreiben.
Im Dunkeln, während er immer noch lauschte und die zurückweichenden Schritte zählte, ordnete Ozmian seine Gedanken. Bislang war er ein bisschen enttäuscht von dem Fortgang der Jagd und der mangelnden Cleverness seines Jagdwilds. Andererseits stellte die Art, wie Pendergast vom Baum heruntergesprungen war, gerade als er geschossen hatte, eine beeindruckend sportliche Aktion dar, auch wenn es unbefriedigend war, ihn gleich zu Beginn an einem solch vorhersehbaren Ort vorzufinden.
Ozmian spürte, dass die Ressourcen des Mannes erst noch ausgeschöpft werden mussten. Und dieser Gedanke erregte ihn. Er vertraute darauf, dass sein Jagdwild so schlau war, ihm eine ordentliche, vielleicht sogar ausgedehnte Pirsch zu bescheren, eine, die ihn für seine Mühen und Schwierigkeiten entschädigen würde.
Schließlich verklangen die äußerst leisen Schritte: Das Jagdwild hatte auf einem der Stockwerke das Treppenhaus verlassen. Ozmian würde also erst wissen, auf welcher Etage genau, wenn er die Schritte zwischen dem Erdgeschoss und dem ersten Stock gezählt und im Kopf eine rasche Division vorgenommen hatte.
Jetzt begann auch er, die Treppe hinaufzusteigen. Dabei bewegte er sich behende und leise, aber nicht allzu schnell. Als er die erste Etage erreichte, konnte er ausrechnen, dass sein Jagdwild, das zwei Stufen auf einmal genommen hatte, im neunten Stock das Treppenhaus verlassen hatte. Das oberste Stockwerk wäre das naheliegendste gewesen, aber das achte ergab mehr Sinn, da dieses seiner Beute zusätzliche Fluchtwege bot. Während Ozmian die Treppe weiter hinaufstieg, spürte er, dass er sich noch nie so lebendig gefühlt hatte. Dieser Nervenkitzel der Jagd, das war eine atavistische Lust, die nur ein echter Jäger wertschätzen konnte, etwas, das in die menschliche DNA eingeschrieben war: diese Liebe zur Pirsch, zum Verfolgen, zum Jagen und zum Töten.