Doch dann, noch während die Sekunden verstrichen, kamen Pendergast erneut Bedenken. Dachte er zu viel über die Situation nach, überschätzte er Ozmian womöglich? Vielleicht verfolgte Ozmian ja einen ganz simplen Plan und würde das Gebäude durch die rückwärtige Tür verlassen. Wenn ja, würde Pendergast nicht nur seine Chance verpassen, sondern würde zudem in seiner Position auf dem Ast höchst verwundbar sein, vor allem, wenn Ozmian tatsächlich vorhatte, von der Rückseite her ums Haus herumzugehen und von dem mit Unkraut bewachsenen kleinen Hügel aus auf ihn zu schießen.
Zehn Sekunden.
Was immer auch jetzt geschah, Pendergast hatte seine Entscheidung getroffen. Die eiserne Kimme auf das metallene Rolltor gerichtet, die Schulter gegen den Baumstamm gelehnt, wartete er mit angehaltenem Atem.
54
Gefesselt und geknebelt, beobachtete Vincent D’Agosta Ozmian, der ihm gegenüber ruhig auf dem Stuhl saß. Ozmian, der vor Pendergasts Ankunft so aufgekratzt und unruhig gewesen war, war inzwischen in höchstem Maße still. Aufrecht auf dem alten Holzstuhl sitzend, hielt er die Augen geschlossen, die Hände lagen auf den Knien. Er schien zu meditieren.
D’Agosta ließ den Blick durch den großen, ungeheizten Raum schweifen. Es war darin so kalt, dass das Blut, das aus Longstreets Kopf gesickert war und auf dem Metalltisch kleine Lachen gebildet hatte, bereits gefror. Drei mit Fernbedienung gesteuerte Halogenstrahler, die in den Ecken hingen, spendeten ein harsches Licht.
Abermals schwirrte ihm der Kopf. Er machte sich wüste Vorwürfe wegen seiner Leichtgläubigkeit. Nicht nur, weil er in diese Falle getappt war, sondern auch, weil er wütend auf Pendergast gewesen war und sich geweigert hatte, zu versuchen, die Dinge so zu sehen wie er. Longstreet war bereits tot – und es war ein ganz fürchterlicher, qualvoller Tod gewesen. Und jetzt konnte es durchaus sein, dass auch Pendergast, wegen seiner, D’Agostas, Dummheit, ums Leben kam.
Vor allem aber war er beseelt von einem glühenden Hass auf Ozmian und einem unbändigen Wunsch nach Rache. Doch noch während er alle Optionen durchging und darüber nachgrübelte, was er tun könnte, um den Spieß umzudrehen, war ihm bewusst, dass er hilflos war und nicht handeln konnte. Alles lag in Pendergasts Hand. Ozmian würde nicht davonkommen. Er würde Pendergast unterschätzen, wie das so viele in der Vergangenheit zu ihrem Leidwesen erfahren hatten. Doch was dachte er denn da? Pendergast würde
Mehrere gefühlt sehr lange Minuten verstrichen. Und dann regte sich Ozmian. Er öffnete die Augen, stand auf, hob die Arme und machte ein paar Streckübungen. Anschließend ging er zum Tisch, auf dem seine Ausrüstung lag, überprüfte die Taschenlampe und steckte sie in eine der Taschen, hakte das Messer an seinen Gürtel, überprüfte seine Pistole, vergewisserte sich, dass eine Kugel im Lauf war, und steckte sich die Waffe hinter den Hosenbund. Das Zusatzmagazin steckte er in eine andere Tasche. Dann drehte er sich zu D’Agosta um. Sein Gesichtsausdruck verriet Eifer und Konzentration. D’Agosta nervte Ozmians ruhige, selbstbewusste Art ganz gewaltig.
»Spielen wir ein kleines Spiel, Sie und ich. Mal sehen, ob ich in den fünf Minuten, die noch verbleiben, bevor ich mit der Jagd beginne, in der Lage sein werde, die Aktionen Ihres Freundes vorauszusehen.« Er machte einen Schritt, dann noch einen, wobei er seine Hand auf dem Metalltisch entlangzog. »Wollen wir?«
Ein merkwürdiges Lächeln umspielte Ozmians Lippen. D’Agosta konnte natürlich nicht antworten, selbst wenn er es gewollt hätte.
»Ich vermute mal, dass Ihr Partner sich keinesfalls geradewegs zu Gebäude 93 begibt. Er ist ja keiner, der sich drückt.«
Wieder ein nachdenklicher Gang um den Tisch.
»Nein … Er entschließt sich vielmehr, umgehend zum Angriff überzugehen. Er entscheidet sich dafür, mich in einen Hinterhalt zu locken, sobald ich dieses Gebäude verlasse.«
Abermals umrundete Ozmian den Tisch.
»Ihr Partner kundschaftet also dieses Gebäude aus. Und siehe da, er entdeckt den hinteren Eingang. Und dann bemerkt er, dass die Türangeln gereinigt und geölt wurden.«
Er hielt inne. D’Agosta starrte ihn mit hasserfülltem Blick an.
»Natürlich kommt er zu dem Schluss, dass ich diese hintere Tür heimlich präpariert habe und aus ihr das Gebäude verlassen werde. Er observiert die Tür, bereit, mich niederzuschießen, sobald ich erscheine.«
Wie der Drecksack den Klang der eigenen Stimme genoss …
»Was denken Sie, Lieutenant? Konnten Sie mir bis hierher folgen?« Ozmian legte nachdenklich einen Finger ans Kinn. »Aber wissen Sie was? Ich glaube