Im Keller durchquerte Pendergast das Gebäude auf fast ganzer Länge. Dabei kam er an einer Heizungsanlage vorbei, an Lagerräumen, einem kleinen Bereich mit Gummizellen, bis er sich schließlich in einem riesigen Archiv voll mit verrotteten Akten befand. Hier unten war es stockdunkel, sodass ihm nichts anderes übrig blieb, als die Taschenlampe einzusetzen. Trotz all der Dinge, an denen er vorbeigekommen war, hatte er nichts gefunden, auch keinen Ort, der ihm dabei helfen könnte, zu entkommen und den Spieß umzudrehen: den Verfolger zu verfolgen. Es hatte etwas Törichtes, wenn nichts Aussichtsloses, diese Farce fortzusetzen – aufs Geratewohl durch dieses riesige Gebäude zu laufen, in der Hoffnung auf eine neue Idee. Er hatte es mit einem Wilden zu tun, einem Mann, der nicht zu besiegen war. Und doch, niemand war unschlagbar, jeder Mensch besaß eine offene Flanke. Inzwischen hatte Pendergast einen gewissen Einblick in Ozmians Denken und Fühlen gewonnen, in seine Verletzlichkeit, doch wie konnte er das zu seinem Vorteil nutzen? Wo befanden sich die feinen Risse in Ozmians Panzer, und wie – sollte er diese finden – sollte er das Schwert dort hineinbohren? Ozmian war wohl der komplexeste und einfallsreichste Gegner, der ihm je begegnet war. »Kenne deinen Feind«, so lautete das wichtigste Diktum in Sun Tzus
Pendergast verharrte kurz, konzentrierte seine Gedanken und nahm die riesigen Räumlichkeiten mittels der Taschenlampe in Augenschein. Es war geradezu unheimlich, dass er hier war, in diesem immensen Raum voller Geschichten des Wahnsinns, des Elends und des Grauens, das Archiv eines gigantischen Irrenhauses. Jetzt begriff er, dass sein eigenes Unbewusstes ihn hierhergeführt hatte.
Das Archiv bestand aus Reihen von Aktenschränken in Metallregalen, die vom Boden bis zur Decke reichten. Jeder Gang wies zwei Rollleitern auf, die erforderlich waren, um an die oberen Aktenschränke heranzukommen. Während Pendergast durch den Raum lief und zu verstehen versuchte, wie dieser organisiert war, wurde ihm klar, dass das Krankenhaus in dem Jahrhundert, in dem es in Betrieb gewesen war, eine atemberaubende Menge an Daten im Form von Patientengeschichten, Krankenberichten, Diktafonaufzeichnungen, Diagnosen, Korrespondenzen, Personalakten und juristischen Schriftstücken angehäuft hatte. Im Lauf seiner Existenz hatte die Klinik Zehntausende psychisch gestörter Patienten aufgenommen, vielleicht Hunderttausende; die Zahlen bestätigten nur Pendergasts Überzeugung, dass es eine riesige Anzahl geisteskranker Menschen auf der Welt gab.
Die Gänge und Reihen waren rasterförmig angelegt, die Gänge mit Buchstaben gekennzeichnet und die Reihen mit Zahlen. Nachdem Pendergast mehrere Gänge entlanggegangen war und die Nummern und Zahlen gelesen hatte, fand er, wonach er suchte, packte eine der Rollleitern, schob sie an den richtigen Platz und stieg, die Taschenlampe zwischen den Zähnen, hinauf. Er riss ein Schubfach auf, durchwühlte es, gelangte an die Rückseite, dann öffnete er noch eines und noch eines, zog Akten daraus hervor und warf sie auf den Boden, bis ihm klar wurde, dass das, wonach er suchte, einfach nicht vorhanden war.
Er stieg die Leiter hinunter, verharrte kurz, um seine Lage neu zu überdenken, dann ging er den Gang entlang zu einer anderen Stelle und öffnete erneut Reihen von Schubfächern. Das Quietschen rostigen Metalls hallte von den Wänden, und Pendergast war sich nur zu deutlich bewusst, dass der Lichtschein seiner Taschenlampe ein perfektes Ziel abgab. Er musste diese Suche beenden, bevor Ozmian seine Spur aufnahm und den Raum betrat.
Pendergast ging zum nächsten Gang, dann zum übernächsten. Die Zeit lief ihm davon. In einer Schublade fand er unerwarteterweise mehrere Seiten zusammengerollter Baupläne in verkleinertem Maßstab. Er blätterte darin, zog einen der Pläne heraus und steckte ihn sich hinter den Hosenbund. Nützlich, aber nicht das, wonach er suchte. Er setzte seine Suche fort.