»Er lebt, Mamma mia, wie haben Sie das denn geschafft?«
»Die Frage bestand darin, welches Spiel ich spielen wollte. Wir fingen an mit Schach, bei dem er mich fast schachmatt gesetzt hätte. Dann wechselten wir zu Craps, aber ich hatte kein Glück beim Würfeln. Und so spielten wir dann am Ende ein Psychospiel, eines, das mein Gegner auf dramatische Weise verlor.«
»Ein Psychospiel?«
»Schauen Sie, Vincent, er hat mich tatsächlich überrumpelt und mir eine Waffe an den Kopf gesetzt. Und dann hat er mich laufen lassen, so wie eine Katze eine Maus laufen lässt.«
»Im Ernst? Wow. Ist ja irre.«
»Danke, das war die Erkenntnis, die ich gebraucht habe. Er hatte bereits zugegeben, dass es sich bei dieser ›Jagd‹ um mehr als das handelte, nämlich um einen Exorzismus seiner Erlebnisse in dieser Klinik. Als Ozmian mich verschonte, da wusste ich, dass er einen viel größeren Teufel austrieb, als ihm selbst bewusst war. Es war ihm hier etwas Schreckliches widerfahren, etwas weitaus Schlimmeres als die Therapiesitzungen mit den Psychiatern, als die Psychodrogen und Zwangsjacken.«
Wie üblich wusste D’Agosta nicht genau, worauf Pendergast hinauswollte, ja nicht einmal, wovon er redete.
»Wie haben Sie ihn also erwischt?«
»Wenn ich mich einmal selbst beglückwünschen darf – ich bin ziemlich stolz auf mein finales Strategem, das darin bestand, alle Kugeln in meiner Waffe abzufeuern und so in meinem Gegner ein falsches Gefühl der Sicherheit zu fördern und ihn zu ermutigen, kopfüber in meine abschließende Falle zu tappen.«
»Also, wo befindet er sich?«
»Im Keller von Gebäude 93, in einem Raum, den er früher einmal sehr gut gekannt hat. In einem Raum, in dem die Ärzte ihn zu dem Menschen gemacht haben, der er heute ist.«
Endlich waren D’Agostas Füße frei, und er stand auf. Ihn fror. Ozmian hatte D’Agostas Kleidung auf einen Stuhl geworfen, und jetzt ging er los, um sie sich zurückzuholen. »Ihn zu dem Menschen gemacht, der er heute ist? Was soll das heißen?«
»Im Alter von zwölf Jahren hat unser Mann als Versuchskaninchen in einer Reihe von brutalen und experimentellen Elektroschockbehandlungen hier gedient. Die Behandlungen haben sein Kurzzeitgedächtnis gelöscht, so wie es bei diesen Behandlungen üblich ist. Doch Erinnerungen, selbst die am tiefsten verborgenen, werden nie ganz gelöscht, und es ist mir gelungen, seine wieder hervorzulocken – was einen spektakulären Effekt hatte.«
»Elektroschockbehandlungen?« D’Agosta zog sich den Mantel an.
»Ja. Wie Sie sich vielleicht erinnern, hat er behauptet, diese nicht im King’s Park erhalten zu haben. Als er mich freiließ, wusste ich es besser. Da war mir klar, dass er sie zwar bekommen hatte, sich aber nicht mehr an sie erinnerte. Im Archiv im Keller habe ich eine Akte gefunden, in der der zuständige Arzt die experimentellen Behandlungen skizziert hat – außerdem befand sich in der Akte das Textbuch, in dem die Ärzte aufgeschrieben hatten, wie sie den armen Jungen beruhigen und ihn dazu überreden wollten, sich in einen Furcht einflößend aussehenden Elektrostuhl zu setzen. Wie sich erwies, wurde Ozmian einer besonders robusten Reihe von Behandlungen unterzogen. Die normale Dosis beträgt 450 Volt bei 0,9 Ampere über einen Zeitraum von einer halben Sekunde. Unser Freund bekam dieselbe Voltspannung, doch bei dreifacher Amperezahl für sage und schreibe zehn Sekunden. Zudem feuerten die Elektroden nacheinander von vorne nach hinten und von einer Seite zur anderen durch die Hirnschale. Dabei durchzuckten Ozmian sofort und noch viele Minuten lang, nachdem diese Elektroschocks aufgehört hatten, extreme Krämpfe. Ich möchte annehmen, dass die Behandlungen im rechten Gyrus supramarginalis erhebliche Schäden angerichtet haben.«
»Was ist das?«
»Der Teil des Gehirns, der für das Einfühlungsvermögen und das Mitgefühl verantwortlich ist. Der Hirnschaden könnte möglicherweise erklären, warum jemand seine Tochter ermordet und enthauptet, wie auch Vergnügen daran findet, Menschen zu jagen und zu töten. Und nun, Vincent, hier ist Ihr Funkgerät. Bitte fordern Sie Unterstützung von Ihren Leuten an, ich mache das Gleiche beim Bureau. Wir haben die brutale Ermordung eines hochdekorierten Bundesagenten zu melden wie auch die Festnahme des gefesselten Täters, der unglücklicherweise nun völlig verrückt geworden ist und mit äußerster Vorsicht behandelt werden muss.«
Pendergast wandte sich um und sammelte seine eigene Kleidung und seine Ausrüstungsgegenstände ein, die in einer Ecke aufgestapelt lagen. D’Agosta beobachtete, wie Pendergast Longstreets sterbliche Überreste betrachtete und eine langsame, traurige Geste machte, fast eine Verneigung. Dann drehte er sich wieder zu D’Agosta um. »Mein lieber Freund, fast hätte ich Sie im Stich gelassen.«
»Hätten Sie nicht, Pendergast. Lassen Sie die falsche Bescheidenheit. Ich hab immer gewusst, dass der Dreckskerl keine Chance gegen Sie hat.«
Pendergast wandte sich ab, um seinen Gesichtsausdruck vor D’Agosta zu verbergen.
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