Doch er konnte einfach nicht loslassen. Es war wie ein schmerzender Zahn, an den man immer wieder mit der Zunge drankam. Und das Schlimmste, das war dieses Gefühl, das er nicht abschütteln konnte: dass der ganze Fall sich auflöste, aus den Fugen geriet, unmittelbar vor seinen Augen. So wie der Rest des NYPD und alle anderen in der Stadt war auch er überzeugt, dass es sich bei dem Täter um einen irren Psycho handelte, der die übelsten der Einprozenter ins Visier nahm. Und Gott allein wusste, als Harriman seine Idee das erste Mal veröffentlicht hatte, ergab sie für D’Agosta und alle anderen absolut Sinn. Doch ganz gleich, unter welchem Stein er nachschaute, er konnte diesen jüngsten Mord einfach nicht in das Muster einfügen.
Und dann war da noch Pendergast. Mehr als einmal hatte er an das zurückgedacht, was der FBI-Agent gesagt hatte.
Was er tun musste, das war D’Agosta jetzt klar: Er musste sich neu orientieren. Pendergast hatte schließlich nicht gesagt, dass er Adeyemi für eine Heilige hielt, jedenfalls nicht wörtlich. Er hatte nur angedeutet, dass sie die ganze Sache auf falsche Weise betrachteten. Vielleicht gab es ja gar keine Serie von unentdecktem Fehlverhalten, sondern Adeyemi hatte
Porzellangeklapper riss D’Agosta aus seinen Gedanken. Laura deckte den Wohnzimmertisch. D’Agosta trank sein Bier nicht aus, sondern stand auf und ging in die Küche, um Laura zu helfen. In den letzten Minuten war sein Appetit in der Tat größer geworden. Er würde den Fall eine Weile vergessen, die Gesellschaft und die Kochkünste seiner Frau genießen … und dann würde er zurück ins Präsidium fahren und wieder herumtelefonieren.
45
Von ihrem Stuhl aus sah Isabel Alves-Vettoretto ihrem Arbeitgeber dabei zu, wie er die drei Seiten, die Bryce Harriman ihm ausgehändigt hatte, durchlas und dann noch mal durchlas.
Sie warf Harriman einen abschätzenden Blick zu. Wenn es darum ging, Leute zu durchschauen, war sie unschlagbar. Sie spürte, dass in dem Reporter die Gefühle Angst, Empörung, Stolz und Trotz miteinander im Widerstreit lagen.
Ozmian hatte die zweite Lektüre beendet und reichte den Artikel, den Harriman ihnen vorschlug, über den wuchtigen Schreibtisch zu Alves-Vettoretto hinüber. Sie las ihn mit mäßigem Interesse durch.
Behutsam legte sie den Artikel an den Rand des Schreibtisches. In dem kurzen Zeitraum, nachdem Pendergast den Raum verlassen und Bryce Harriman hereingeführt worden war, hatte sich Ozmian untypisch still verhalten und tief in Gedanken über irgendwas in seinem Computer nachgegrübelt. Jetzt aber waren seine Gesten schnell und ökonomisch. Als Alves-Vettoretto den Artikel aus der Hand gelegt hatte, merkte sie, dass Ozmian sie anschaute.
Ihr war klar, was dieser Blick bedeutete, sie stand auf und entschuldigte sich, kurz das Büro verlassen zu müssen.
Was sie tun musste, war minutiös im Voraus geplant worden, und es in Gang zu setzen dauerte fünf Minuten. Als sie zurückkehrte, legte Harriman gerade mit triumphierender Miene ein weiteres Blatt Papier auf Ozmians Schreibtisch, offenbar eine Kopie der eidesstattlichen Erklärung, die Harriman laut eigener Aussage von dem Augenzeugen in Massachusetts eingeholt hatte.
Jetzt redete Ozmian, und Harriman hörte zu.
»Und diese ›Gegen-Erpressung‹, wie Sie das nennen, besteht demnach aus drei Teilen«, sagte Ozmian in ruhigem Tonfall, während er auf den Entwurf des Artikels zeigte. »Sie legen im Detail die Geschehnisse von vor dreißig Jahren dar, als ich vor einer Gruppe von Kirchgängern Pater Anselm in der Kirche ›Our Lady of Mercy‹ bewusstlos geschlagen habe. Zudem sind Sie, um das zu beweisen, im Besitz einer eidesstattlichen Erklärung.«
»Das trifft es so ziemlich.«