Es blieb nur noch eines zu tun: D’Agosta kontaktieren. Dafür konnte er sein reguläres Handy verwenden, nur für diesen einen Anruf, und ihn banal halten. Er scrollte in dem Verzeichnis mit den Kontakten, fand D’Agostas Nummer und wählte. Es war zwar noch nicht mal halb sieben, doch der Anruf wurde beim ersten Klingeln entgegengenommen. Und die Stimme am anderen Ende der Leitung klang überhaupt nicht schläfrig.
»Ja?«
Longstreet fiel auf, dass sich der Mann nicht identifizierte. »Lieutenant?«
»Ja.«
»Wissen Sie, wer ich bin?«
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie der sind, den unser gemeinsamer Bekannter ›H‹ nennt.«
»Korrekt. Bitte halten Sie Ihre Antworten so kurz wie möglich. Hat er Sie kontaktiert?«
»Ja.«
»Und einen Ort vorgeschlagen, an dem wir beide uns einfinden sollen?«
»Keinen Ort. Er hat mir nur gesagt, dass ich einen Anruf von Ihnen erwarten soll – dringend und vertraulich.«
»Gut. Wir treffen uns um zwölf vor Ihrer, äh, Firmenzentrale.«
»Okay.«
»Absolut vertraulich.«
»Habe verstanden.«
Die Leitung war unterbrochen.
Longstreet legte das Handy beiseite. Obwohl er in seiner langen Berufslaufbahn zahlreiche verdeckte Ermittlungen geleitet hatte, konnte er nicht anders – er verspürte doch eine gewisse innere Erregung. Nachdem er jahrelang große Kommandoeinheiten befehligt hatte, erschien ihm eine kleine, taktische Operation wie diese wie eine Rückkehr zu seinen Wurzeln. Dieser Pendergast – er war immer für eine Überraschung gut. Er hatte das Ganze äußerst gut gemanagt. Dennoch, die Beteiligung des Lieutenants würde entscheidend sein, da es sich hier auch um eine Ermittlung des NYPD handelte.
Longstreet ging zu Bett, jedoch nicht in der Hoffnung, schlafen zu können – das war jetzt nicht mehr möglich –, sondern um einen klaren Kopf zu bekommen und um sich auf die bevorstehende Aufgabe zu konzentrieren. Schon bald würde es Mittag sein, und dann würde die Ermittlung in ihre letzte Phase eintreten: den Zugriff. Er hoffte inständig, dass diese albtraumhafte Reihe von Serienmorden damit endlich beendet wäre.
Er schloss die Augen, während das Licht des heraufdämmernden Morgens die Schlafzimmervorhänge erhellte.
49
Bryce Harriman wurde vom bewaffneten Justizvollzugsbeamten erst durch die kahlen Gänge des Manhattan Detention Complex geführt und dann in einen winzigen Raum mit einem am Fußboden festgeschraubten Tisch, zwei Stühlen, einer Wanduhr und einer Deckenlampe – beides mit einem Drahtgitter abgeschirmt. Der Raum hatte keine Fenster, nur wegen der Uhr wusste Harriman, dass es 20.45 Uhr war.
»Da wären wir«, sagte der Beamte.
Harriman zögerte und blickte die beiden muskelbepackten, glatzköpfigen Kerle an, die bereits in der Zelle saßen und ihn musterten, als würden sie ein Stück medium gebratenes Roastbeef in Augenschein nehmen.
»Machen Sie schon, rein mit Ihnen!« Der Wachmann versetzte Harriman einen leichten Stoß. Er betrat die Zelle; die Tür fiel hinter ihm ins Schloss, scheppernd wurde der Riegel vorgelegt.
Er schlurfte in die Zelle und nahm Platz. Wenigstens trug er keine Fußfesseln mehr, aber der orangefarbene Overall war steif und scheuerte auf der Haut. Die vergangenen Stunden waren in einer fürchterlichen Verschwommenheit an ihm vorbeigezogen. Die Festnahme, die Fahrt in einem Streifenwagen zur örtlichen Polizeistation, das Warten, die Anklageverlesung wegen Unterschlagung, anschließend die deprimierend kurze Fahrt zu dem nur ein paar Häuserblocks entfernten Gefängnis – das Ganze spielte sich so schnell ab, dass er kaum verarbeiten konnte, was passiert war. Es war wie ein Albtraum, aus dem man nicht erwachte.
Kaum war der Justizbeamte gegangen, kam einer der bulligen Typen herüber, pflanzte sich richtig nah vor Harriman auf und starrte auf ihn herunter.
Schließlich hob Harriman, der nicht wusste, was er tun sollte, die Arme. »Was ist denn?«
»Das ist
Behände sprang Harriman auf, der Mann setzte sich. Zwei Sitzplätze, drei Männer. Keine Pritsche. Es würde ein langer Tag werden.
Während er auf dem Boden saß, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, und dem Gelärme und Geschrei der Mitgefangenen rauf und runter im Zellenblock lauschte, sah er die Fehler, die er gemacht hatte, wie in einer blöden Fernsehshow vor seinem inneren Auge paradieren. Er war geblendet gewesen von seinem übermäßigen Selbstbewusstsein, verstärkt durch seine neu errungene Berühmtheit, und hatte Anton Ozmian auf verhängnisvolle Weise unterschätzt.
Sein erster Fehler, auf den Ozmian sich bemüht hatte hinzuweisen, hatte darin bestanden, die naheliegende Frage zu übersehen: Warum hatte Ozmian den Priester überhaupt zusammengeschlagen? Wieso gab es keine Konsequenzen? Das war ein solch ungeheuerlicher Angriff gewesen, ausgeführt vor der versammelten Kirchengemeinde, dass seine Reporter-Alarmglocken hätten schrillen müssen.