Und wie sonderbar und bewegend der eingetretene Priester, hinter welchem unsichtbare Hände die Tür wieder zudrückten, trug die Ordenstracht des Klosters Mariabronn, die wohlbekannte, heimatliche Tracht, wie sie einst der Abt Daniel, der Pater Anselm, der Pater Martin getragen hatten! Der Anblick gab ihm einen wunderlichen Stoß im Herzen, er musste die Augen abwenden. Das Erscheinen dieser Klostertracht mochte Freundliches versprechen, es mochte ein gutes Zeichen sein. Aber vielleicht gab es doch keinen andern Ausweg als den Totschlag. Er biss die Zähne zusammen. Es würde ihm sehr schwerfallen, diesen Ordensbruder umzubringen.
SIebzehntes Kapitel
»Gelobt sei Jesus Christus«, sagte der Pater und setzte den Leuchter auf den Tisch. Murmelnd responsierte Goldmund, vor sich niederstarrend.
Der Geistliche schwieg. Wartend stand er da und schwieg, bis Goldmund unruhig wurde und seine Augen forschend auf den Mann richtete, der vor ihm stand.
Dieser Mann, so sah er jetzt zu seiner Verwirrung, trug nicht nur die Tracht der Patres von Mariabronn, er trug auch die Abzeichen der Abtswürde.
Und nun blickte er dem Abt ins Gesicht. Es war ein hageres Gesicht, fest und klar geschnitten, mit sehr dünnen Lippen. Es war ein Gesicht, das er kannte. Wie verzaubert blickte Goldmund in dies Gesicht, das ganz von Geist und Wille geformt schien. Mit unsicherer Hand griff er nach dem Leuchter, hob ihn auf und näherte ihn dem fremden Gesicht, um die Augen dann sehen zu können. Er sah sie, und der Leuchter zitterte in seiner Hand, als er ihn zurückstellte.
»Narziss!« flüsterte er kaum hörbar. Es begann sich alles um ihn im Kreise zu drehen.
»Ja, Goldmund, ich bin einst Narziss gewesen, aber ich habe den Namen schon vor sehr langer Zeit abgelegt, du hast es wohl vergessen Seit meiner Einkleidung[109]
heiße ich Johannes.«Goldmund war bis ins Herz erschüttert. Plötzlich hatte sich die ganze Welt verändert, und das plötzliche Zusammenstürzen seiner übermenschlichen Anspannung drohte ihn zu ersticken, er zitterte, und Schwindelgefühl ließ ihn seinen Kopf wie eine leere Blase empfinden, sein Magen zog sich zusammen. Hinter den Augen brannte es wie andrängendes Schluchzen. Aufschluchzen und zusammensinken, in Tränen, in Ohnmacht – das war es, wonach alles in ihm in diesem Augenblick begehrte.
Aber es stieg aus der durch Narzissens Anblick beschworenen Tiefe der Jugenderinnerung eine Mahnung in ihm auf: einmal, als Knabe, hatte er vor diesem schonen strengen Antlitz, vor diesen dunklen allwissenden Augen geweint und sich gehen lassen. Er durfte das nicht wieder tun. Da erschien nun wie ein Gespenst im wunderlichsten Augenblick seines Lebens dieser Narziss wieder, wahrscheinlich, um ihm das Leben zu retten – und nun sollte er wieder vor ihm in Schluchzen ausbrechen oder in Ohnmacht fallen? Nein, nein, nein. Er hielt sich. Er bändigte sein Herz, er zwang seinen Magen, er jagte den Schwindel aus seinem Kopf. Er durfte jetzt keine Schwäche zeigen.
Mit künstlich beherrschter Stimme gelang es ihm zu sagen. »Du musst mir erlauben, dich noch immer Narziss zu nennen.«
»Nenne mich so, Lieber. Und willst du mir nicht die Hand geben?«
Wieder zwang sich Goldmund. Mit einem knabentrotzigen und leicht spöttischen Ton, ganz wie manchmal in den Schülerzeiten, brachte er seine Antwort heraus.
»Entschuldige, Narziss«, sagte er kühl und ein wenig blasiert »Ich sehe, du bist Abt geworden. Ich aber bin noch immer ein Landstreicher. Und außerdem wird unsere Unterhaltung, so erwünscht sie mir ist, leider nicht lange dauern dürfen. Denn schau, Narziss, ich bin zum Galgen verurteilt, und in einer Stunde, oder früher, werde ich wohl gehängt sein. Ich sage es nur, um dir die Situation klarzumachen.«
Narziss verzog keine Miene[110]
. Das bisschen Knabenund Renommistentum[111] in des Freundes Haltung machte ihm großen Spaß und rührte ihn zugleich. Den Stolz aber, der dahinterstand und der es Goldmund verbot, ihm weinend an die Brust zu sinken, den verstand und billigte er zuinnerst. Wahrlich, auch er hatte sich das Wiedersehen anders vorgestellt, aber er war mit dieser kleinen Komödie innig einverstanden. Mit nichts hätte Goldmund sich rascher wieder in sein Herz schmeicheln können.»Nun ja«, sagte er und spielte ebenfalls den Gleichmütigen »Übrigens kann ich dich wegen des Galgens beruhigen Du bist begnadigt. Ich habe Auftrag, dir das mitzuteilen und dich mitzunehmen. Denn hier in der Stadt darfst du nicht bleiben. Wir werden also Zeit genug haben, einander dies und jenes zu erzählen. Aber wie ist das nun: willst du mir jetzt die Hand geben?«
Sie gaben sich die Hände und hielten sie lange fest und drückten sie und fühlten sich tief bewegt, in ihren Worten aber dauerte die Sprödigkeit und Komödie noch eine ganze Weile an.