Goldmund erzählte ausführlich die Geschichte Rebekkas, er wurde dabei warm und leidenschaftlich.
»Und nun«, schloss er heftig, »was ist das für eine Welt, in der wir da leben müssen? Ist es nicht eine Hölle? Ist es nicht empörend und scheußlich?«
»Gewiss. Die Welt ist nicht anders.«
»So!« rief Goldmund böse »Und wie oft hast du mir früher behauptet, die Welt sei göttlich, sie sei eine große Harmonie von Kreisen, in deren Mitte der Schöpfer thront, und das Existierende sei gut, und so weiter. Du sagtest, es stehe im Aristoteles oder beim heiligen Thomas. Ich bin begierig, deine Erklärung des Widerspruchs zu hören.«
Narziss lachte.
»Dein Gedächtnis ist erstaunlich, und doch hat es dich ein wenig getäuscht. Ich habe den Schöpfer stets als vollkommen verehrt, aber niemals die Schöpfung. Ich habe das Übel in der Welt nie geleugnet. Dass das Leben auf Erden harmonisch und gerecht und dass der Mensch gut sei, dies, mein Lieber, hat noch nie ein echter Denker behauptet. Dass vielmehr das Dichten und Trachten des Menschenherzens übel sei, steht ausdrücklich in der Heiligen Schrift, und wir sehen es jeden Tag bestätigt.«
»Sehr gut. Ich sehe nun endlich, wie ihr Gelehrte das meint. Also der Mensch ist böse, und das Leben auf Erden ist voll Gemeinheit und Schweinerei, das gebet ihr zu. Aber dahinter irgendwo, in euren Gedanken und Lehrbüchern, gibt es Gerechtigkeit und Vollkommenheit. Sie sind vorhanden, man kann sie beweisen, nur aber macht man keinen Gebrauch davon.«
»Du hast viel Groll gegen uns Theologen angesammelt, lieber Freund! Aber du bist noch immer kein Denker geworden, du wirfst alles durcheinander Du wirst einiges hinzulernen müssen. Aber warum denn sagst du, wir machten von der Idee der Gerechtigkeit keinen Gebrauch! Jeden Tag und jede Stunde tun wir es. Ich zum Beispiel bin Abt und habe ein Kloster zu leiten, und in diesem Kloster geht es ebensowenig vollkommen und sündlos zu wie in der Welt draußen. Dennoch setzen wir der Erbsünde beständig und immer wieder die Idee der Gerechtigkeit entgegen und suchen unser unvollkommenes Leben an ihr zu messen und suchen das Böse zu korrigieren und unser Leben in beständige Beziehung zu Gott zu setzen.«
»Ach ja, Narziss. Ich meine ja nicht dich und dass du etwa kein guter Abt seiest. Aber ich denke an Rebekka, an die verbrannten Juden, an die Massengräber, an das große Sterben, an die Gassen und Stuben, in denen die Pestleichen lagen und stanken, an diese ganze grauenhafte Wüstenei, an die verwahrlosten, allein zurückgebliebenen Kinder, an die in ihren Ketten verhungerten Hofhunde – und wenn ich an das alles denke und diese Bilder vor mir sehe, dann tut das Herz mir weh, und es will mir scheinen, unsere Mütter hätten uns in eine hoffnungslos grausame und teuflische Welt hinein geboren, und es wäre besser, sie hätten es nicht getan und Gott hatte diese schreckliche Welt nicht erschaffen und der Heiland hatte sich nicht unnütz für sie ans Kreuz schlagen lassen.«
Freundlich nickte Narziss dem Freunde zu.
»Du hast ganz recht«, sagte er warm, »sprich es nur aus, sage mir alles. Aber in einem täuschest du dich sehr: du hältst das, was du da sprichst, für Gedanken. Es sind aber Gefühle! Es sind die Gefühle eines Menschen, dem das Grauen des Daseins zu schaffen macht. Nun vergiss aber nicht, dass diesen traurigen und verzweifelten Gefühlen ganz andere gegenüberstehen! Wenn du dich auf deinem Ross wohlfühlst und durch eine schöne Gegend reitest oder wenn du, leichtsinnig genug, dich am Abend ins Schloss einschleichst, um der Geliebten des Grafen den Hof zu machen, dann sieht die Welt für dich ganz anders aus, und alle Pesthäuser und alle verbrannten Juden können dich durchaus nicht hindern, deine Lust zu suchen Ist es nicht so?«
»Gewiss, es ist so. Weil die Welt so voll von Tod und Grauen ist, darum suche ich immer wieder mein Herz zu trösten und die schönen Blumen zu pflücken, die es inmitten dieser Hölle gibt. Ich finde Lust, und ich vergesse für eine Stunde das Grauen. Darum ist es nicht minder da.«
»Du hast es sehr gut formuliert. Also du findest dich in der Welt von Tod und Grauen umgeben, und daraus entfliehst du in die Lust. Aber die Lust ist ohne Dauer, sie entlässt dich wieder in die Wüste.«
»Ja, so ist es.«
»Es geht den meisten Menschen so, nur empfinden es wenige mit solcher Stärke und Heftigkeit wie du, und wenige haben das Bedürfnis, dieser Empfindungen bewusst zu werden. Aber sage doch außer diesem verzweifelten Hin und Her zwischen Lust und Grauen, außer dieser Schaukel zwischen Lebenslust und Todesgefühl – hast du nicht außerdem noch irgendeinen Weg probiert?«