4 Frau Joos stand hinter der Theke und ordnete mit einer silbernen Zange Pralinen in Kristallschalen. Ich hatte gehofft, wir würden daran vorbeikommen, ohne von Frau Joos begrüßt zu werden; sie legt Wert darauf, das zu tun, weil sie „ein Herz für die Jugend hat" — aber nun kam sie hinter der Theke heraus, streckte beide Hände aus und drückte meine Handgelenke, weil ich in meinen Händen den Autoschlüssel und meinen Hut hielt, und rief: „Wie schön, Sie schon wiederzusehen", und ich spürte, dass ich errötete, und blickte verlegen in ihre hübschen, oval geschnittenen Augen, in denen ich lesen konnte, wie sehr ich den Frauen gefalle. Der tägliche Umgang mit Pralinen, deren Hüterin sie ist, hat Frau Joos diesen ähnlich gemacht; sie sieht wie eine Praline aus: süß, sauber, appetitlich, und ihre zierlichen Finger sind vom Umgang mit der Silberzange her immer ein wenig gespreizt. Klein ist sie und hüpft wie ein Vögelchen, und die beiden weißen Haarsträhnen, die an beiden Schläfen nach hinten laufen,erinnern mich immer an gewisse Marzipanstreifen an gewissen Pralinen; in ihrem Kopf, diesem schmalen, eiförmigen Schädel, sitzt die ganze Pralinentopographie unserer Stadt; sie weiß genau, welche Frau welche Pralinen bevorzugt; womit man wen erfreuen kann — und so ist sie die Ratgeberin aller Kavaliere, die Vertraute der großen Geschäfte, die an Feiertagen die Frauen ihrer großen Kunden mit Aufmerksamkeiten bedenken. Welche Ehebrüche bevorstehen, welche schon vollzogen sind, liest sie aus dem Verbrauch gewisser Pralinenmischungen ab; auch erfindet sie neue Mischungen, die sie mit viel Geschick in Mode bringt.
5 Sie gab Ulla die Hand, lächelte ihr zu; ich steckte den Autoschlüssel in die Tasche, und sie ließ von Ulla ab und gab mir noch einmal die Hand.
6 Ich blickte genauer in diese hübschen Augen und versuchte, mir vorzustellen, wie sie wohl mit mir gesprochen hätte, wenn ich vor sieben Jahren gekommen und sie um Brot gefragt hätte — und ich sah diese Augen noch schmäler werden, hart und trocken wie die einer Gans, und ich sah diese reizenden, zierlich gespreizten Finger sich krampfen wie Krallen, sah diese weiche gepflegte Hand runzelig und gelb von Geiz, und ich nahm meine so hastig aus der ihren, dass sie erschrak und kopfschüttelnd hinter ihre Theke zurückging, und ihr Gesicht sah jetzt aus wie eine Praline, die in den Dreck gefallen ist und aus der die Füllung langsam in die Gosse rinnt, keine süße, eine saure Füllung.
Илья Михайлович Франк , Илья Франк , Фридрих Дюрренматт , Яков Александрович Унфангер , Яков Унфангер
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