Roger biss sich konzentriert auf die Lippen. Er presste die Messerspitze direkt oberhalb der Bisswunde in die Haut. Die Haut war überraschend zäh und unnachgiebig; das Messer ritzte sie zwar an, durchdrang sie jedoch nicht. Fraser bückte sich und umfasste Rogers Hand; mit einem tiefen, heftigen Grunzen drückte er fest zu, und das Messer sank plötzlich drei Zentimeter oder mehr in die Haut ein. An der Klinge quoll Blut auf; Frasers Hand ließ los.
»Noch einmal. Fest – und in Gottes Namen, Mann, mach schnell.« Jamies Stimme war ruhig, doch Roger spürte, wie klare Schweißtropfen von Frasers Gesicht auf seine Hand fielen, erst warm, dann kalt auf seiner Hand.
Er zwang sich zu der notwendigen Kraft, stach fest zu und schnitt rasch – zwei x-förmige Markierungen über den Bissen, so, wie es in den Erste-Hilfe-Ratgebern stand. Die Wunden bluteten stark, und das Blut rann in dicken Strömen zu Boden. Das war gut, dachte er. Er musste tief schneiden; tief genug, um unter das Gift zu gelangen. Er ließ das Messer fallen, bückte sich und legte den Mund auf die Wunden.
Er spürte keine Panik, doch seine Eile wuchs. Wie schnell breitete sich das Gift aus? Ihm blieben nur Minuten, vielleicht sogar weniger. Er saugte, so fest er konnte, und das Blut erfüllte seinen Mund mit einem scharfen Metallgeschmack. Er saugte und spuckte in stummer Hektik. Das Blut platschte auf das gelbe Laub, Frasers Beinhaare kratzten ihn an den Lippen. Mit jener seltsamen Zerstreutheit, die sich im Notfall oft einstellt, dachte er an ein Dutzend flüchtiger Dinge zugleich, während er sich doch mit ganzer Konzentration seiner Aufgabe widmete.
War die verdammte Schlange wirklich tot?
Wie giftig war sie?
Waren die Bisons entkommen?
Himmel, machte er es richtig?
Brianna würde ihn umbringen, wenn er ihren Vater sterben ließ. Claire ebenfalls.
Er hatte einen mörderischen Krampf im rechten Oberschenkel.
Wo zum Teufel waren die anderen? Fraser sollte sie besser rufen – nein, er
Etwas fasste ihm am Hinterkopf in die Haare, verdrehte sie ihm und zwang ihn aufzuhören. Er blickte schwer atmend auf.
»Das reicht, aye?«, sagte Jamie nachsichtig. »Du saugst mich ja noch leer.« Er wackelte vorsichtig mit dem entblößten Fuß und verzog das Gesicht, als er sein Bein sah. Die Bisswunden waren deutlich zu sehen. Aus ihnen sickerte immer noch Blut, und das Gewebe ringsum war von Rogers Saugen geschwollen, fleckig und blau.
Roger setzte sich auf die Fersen und holte heftig Luft.
»Ich habe eine größere … Sauerei gemacht … als die Schlange.«
Sein Mund füllte sich mit Speichel; er hustete und spuckte aus. Fraser bot ihm wortlos die Whiskyflasche an; er spülte sich den Mund durch und spuckte erneut aus, dann trank er einen großen Schluck.
»Und?« Er wischte sich mit dem Handrücken das Kinn ab und wies kopfnickend auf das verunstaltete Bein.
»Es geht schon.« Jamie war immer noch bleich, doch sein Mundwinkel verzog sich. »Geh und sieh nach, ob die anderen in Sichtweite sind.«
Das war nicht der Fall; die Aussicht von der Spitze des Felsvorsprungs zeigte nichts als ein Meer kahler, wogender Äste. Der Wind hatte aufgefrischt. Falls sich die Bisons immer noch am Fluss entlang bewegten, so war keine Spur zu sehen, weder von ihnen noch von ihren Jägern.
Heiser von seinen Hallo-Rufen im Gegenwind, kehrte Roger wieder nach unten zurück. Jamie hatte sich ein Stück bewegt und am Fuß einer großen Balsamfichte zwischen Felsblöcken eine geschützte Stelle gefunden. Er hatte die Beine ausgestreckt, lehnte mit dem Rücken an einem Felsen und hatte sich ein Taschentuch um sein verletztes Bein gebunden.
»Keine Spur von irgendjemandem. Kannst du laufen?« Roger beugte sich über seinen Schwiegervater und stellte erschrocken fest, dass sein Gesicht gerötet war und er heftig schwitzte, obwohl die Luft zunehmend kühler wurde.
Jamie schüttelte den Kopf und wies auf sein Bein.
»Ja – aber nicht weit.« Das Bein war im Umfeld der Bisswunde merklich geschwollen, und die bläuliche Verfärbung hatte sich ausgebreitet; sie sah wie eine frische Prellung aus und war auf beiden Seiten des Taschentuchs zu sehen.
Roger spürte den ersten Stich der Beklommenheit. Er hatte alles getan, was er wusste; Erste-Hilfe-Ratgeber empfahlen als nächsten Schritt bei der Behandlung von Schlangenbissen immer, »die betroffene Körperstelle ruhigzustellen und den Patienten so schnell wie möglich ins Krankenhaus zu bringen.« Die Messerschnitte und das Saugen sollten das Gift aus der Wunde ziehen – doch es war eindeutig noch genug davon zurückgeblieben, und jetzt breitete es sich langsam in Jamie Frasers Körper aus. Er war zu spät gewesen, um alles zu erwischen – wenn er überhaupt etwas erwischt hatte. Und das, was einem Krankenhaus am nächsten kam – Claire und ihre Kräuter –, war einen Tagesmarsch entfernt.