Wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte und die Brust gegen den Beton drückte, konnte er gerade eben über die Mauer hinwegblicken. Ein Stockwerk tiefer hing die Notbeleuchtung in unterbrochenen Streifen an der Wand und warf ein Zebramuster auf die drängende Menge unter ihm. Es war mitten in der Nacht; die meisten der Leute hatten angezogen, was sie beim Ertönen der Sirene in die Finger bekommen hatten, und das Licht fiel auf unerwartet aufblitzende, nackte Haut und auf die außergewöhnlichsten Kleidungsstücke. Eine Dame trug einen extravaganten, mit Federn und Früchten verzierten Hut zu einem uralten Mantel.
Er hatte die Menge in der Tiefe fasziniert betrachtet und versucht zu sehen, ob auf dem Hut tatsächlich ein ganzer Fasan war. Leute schrien, der Luftschutzwart mit dem weißen Helm hatte wie verrückt gewunken und versucht, die sowieso schon drängenden Menschen zur Eile anzutreiben, damit sie zum anderen Ende des Bahnsteigs weiter gingen und für die Neuankömmlinge von der Treppe Platz machten.
»Viele Kinder haben geweint, aber ich nicht. Ich hatte eigentlich gar keine Angst.« Er hatte keine Angst gehabt, weil Mama seine Hand hielt.
»Es gab einen großen Knall in der Nähe. Ich konnte sehen, wie die Lampen wackelten. Dann gab es über uns ein Geräusch, als ob etwas zerriss. Alle haben nach oben geschaut und angefangen zu schreien.«
Der Riss in der Gewölbedecke hatte nicht besonders angsteinflößend ausgesehen, nur eine dünne, schwarze Zickzacklinie, die den Fugen der Kacheln folgte wie mit der Laubsäge hineingefräst. Doch dann hatte er sich plötzlich verbreitert, ein klaffender Schlund wie das Maul eines Drachen, und es hatte angefangen, Schmutz und Kacheln zu regnen.
Er war längst wieder aufgetaut, und doch bekam er jetzt am ganzen Körper eine Gänsehaut. Sein Herz hämmerte von innen gegen seine Brust, und er fühlte sich, als hätte sich die Schlinge wieder fest um seinen Hals gezogen.
»Sie hat losgelassen«, flüsterte er erstickt. »Sie hat meine Hand losgelassen.«
Brianna nahm seine Hand fest zwischen die ihren und versuchte, das Kind zu retten, das er einmal gewesen war.
»Sie musste es tun«, flüsterte sie drängend. »Roger, sie hätte dich nie losgelassen, wenn sie nicht gemusst hätte.«
»Nein.« Er schüttelte heftig den Kopf. »Das ist es nicht, was – ich meine – warte. Warte eine Sekunde, okay?«
Er kniff die Augen fest zu und öffnete sie wieder, versuchte, langsamer zu atmen, die verstreuten Bruchstücke jener Nacht wieder zusammenzusetzen. Konfusion, Panik, Schmerz … aber was war tatsächlich
Briannas Hand umklammerte die seine, und ihre Finger drückten so fest zu, dass es ihm das Blut abschnürte. Er tätschelte ihr sanft die Hand, und ihr Griff lockerte sich etwas.
Er schloss die Augen und ließ es geschehen.
»Zuerst konnte ich mich an nichts erinnern«, sagte er schließlich leise. »Oder besser, ich konnte es schon – aber ich habe mich an das erinnert, was die Leute mir erzählt hatten.« Natürlich konnte er sich nicht daran erinnern, wie man ihn bewusstlos durch den Tunnel getragen hatte, und nach seiner Rettung war er mehrere Wochen lang gemeinsam mit anderen Waisen von einer Notunterkunft zur nächsten Pflegefamilie weitergereicht worden, stumm vor Schrecken und Verwirrung.
»Ich kannte natürlich meinen Namen und meine Adresse, aber das war unter den Umständen nicht besonders hilfreich. Mein Vater war schon lange abgestürzt … Also jedenfalls, bis die Hilfsorganisation Omas Bruder gefunden hatte – das war der Reverend – und er mich dann holen kam, hatten sie die Geschichte der Ereignisse im Schutzraum zusammengepuzzelt. Es war ein Wunder, dass ich nicht mit den anderen auf der Treppe umgekommen bin, hat man mir gesagt. Sie haben gesagt, dass meine Mutter mich irgendwie in der Panik verloren haben muss – ich müsse von ihr getrennt und von der panischen Menge die Treppe hinuntergetragen worden sein; so sei ich auf der unteren Ebene gelandet, wo die Decke gehalten hat.«
Briannas Hand war um die seine geschmiegt, schützend, doch jetzt ohne Druck.
»Jetzt erinnerst du dich, wie es war?«, fragte sie leise.