An seine Großmutter hatte er seit Jahren genauso wenig gedacht wie an seine Mutter. Doch als er jetzt von ihr sprach, konnte er den Rosenwasserduft der Glyzerinlotion riechen, die seine Großmutter für ihre Hände benutzt hatte, den etwas muffigen Geruch ihrer Etagenwohnung an der Tottenham Court Road, die mit viel zu großen Rosshaarmöbeln vollgestellt war, Überreste eines vorigen Lebens, das ein Haus, einen Ehemann und Kinder beinhaltet hatte.
Er holte tief Luft. Brianna spürte es und presste ihren breiten, festen Rücken ermunternd an seine Brust. Er küsste ihren Nacken. Also ließ sich die Tür tatsächlich öffnen – vielleicht nur einen Spalt breit, doch das Licht eines Londoner Winternachmittags fiel hindurch und beleuchtete einen Stapel abgenutzter Holzklötze auf einem zerschlissenen Teppich. Eine Frauenhand baute einen Turm damit, und die blasse Sonne versprühte Regenbogen von einem Diamanten an ihrer Hand. Beim Anblick dieser schlanken Hand krümmten sich seine eigenen Finger automatisch.
»Mama – meine Mutter –, sie war klein, wie Oma. Das heißt, mir kamen sie beide groß vor, aber ich kann mich erinnern … ich kann mich erinnern, dass sie sich auf die Zehenspitzen gestellt hat, wenn sie etwas aus dem Regal holen wollte.«
Gegenstände. Der Teewagen mit der Zuckerschüssel aus Kristall. Der verbeulte Kessel, drei große Tassen, die nicht zueinander passten. Auf der seinen war ein Pandabär gewesen. Eine Packung Kekse – hellrot mit dem Bild eines Papageien … mein Gott, er hatte die Sorte nie wieder gesehen, ob sie noch hergestellt wurden? Nein, natürlich nicht, nicht jetzt …
Er rief seine wandernden Gedanken mit Nachdruck von ihren Abwegen zurück.
»Ich weiß, wie sie ausgesehen hat, aber zum Großteil von Bildern, nicht aus meiner eigenen Erinnerung.« Und doch
»Wie hat sie ausgesehen? Siehst du ihr irgendwie ähnlich?«
Er zuckte mit den Achseln, und Brianna drehte sich zu ihm um, den Kopf auf ihren ausgestreckten Arm gestützt. Ihre Augen schimmerten in der Dunkelheit, und die Neugier hatte ihre Müdigkeit vertrieben.
»Ein bisschen«, sagte er langsam. »Ihr Haar war dunkel wie meins.«
»Der Reverend hatte ein paar Bilder von ihr in seinem Studierzimmer. Auf einem hat sie mich auf dem Schoß. Ich weiß nicht, was wir angesehen haben – aber wir sehen beide so aus, als müssten wir uns große Mühe geben, um nicht loszulachen. Auf diesem Bild sehen wir uns sehr ähnlich. Ich glaube, ich habe ihren Mund – und … vielleicht … die Form ihrer Augenbrauen.«
Lange Zeit war es ihm eng in der Brust geworden, wenn er dieses Bild seiner Mutter sah. Doch dann war es vorübergegangen, die Bilder hatten ihre Bedeutung verloren und waren einfach zu Bestandteilen des losen Durcheinanders im Haus des Reverends geworden. Jetzt sah er sie wieder deutlich vor sich, und das Gefühl der Enge war wieder da. Er räusperte sich kräftig, um es zu lindern.
»Brauchst du Wasser?« Sie machte Anstalten, sich zu erheben, und streckte die Hand nach dem Krug und dem Becher aus, den sie für ihn auf einem Hocker neben dem Bett stehen hatte, doch er schüttelte den Kopf und legte ihr die Hand auf die Schulter, um sie davon abzuhalten.
»Es geht schon«, sagte er ein wenig rau und räusperte sich erneut. Sein Hals fühlte sich genauso eng und schmerzhaft an wie in den Wochen unmittelbar nach dem Galgen. Seine Hand tastete unwillkürlich nach der Narbe, und er strich die gezackte Linie unter seinem Kinn mit der Fingerspitze glatt.
»Weißt du«, sagte er, um sich wenigstens einen Moment abzulenken, »du solltest ein Selbstporträt malen, wenn du das nächste Mal deine Tante auf River Run besuchst.«
»Wer, ich?« Sie klang verblüfft, wenn auch, so dachte er – angenehm überrascht über diese Idee.
»Sicher. Du kannst es, das weiß ich. Und dann gäbe es … nun ja, ein dauerhaftes Dokument, meine ich.«