Draußen vor dem Fenster stieg das Zwielicht aus Feld und Wald und Wasser. Man behauptet, dass die Nacht sich senkt, aber eigentlich stimmt das nicht. Die Dunkelheit stieg auf, füllte erst die Talmulden, überschattete dann die Berghänge und kroch unmerklich an Baumstämmen und Pfosten hoch, während die Nacht den Boden verschlang und dann aufstieg, um sich mit dem tieferen Dunkel des sternenübersäten Himmels zu vereinen.
Ich saß da, starrte aus dem Fenster und sah zu, wie sich das Licht auf den Pferden in der Koppel veränderte: statt zu verblassen, wandelte es sich, so dass alles – die gebogenen Hälse, die runden Hinterteile, selbst einzelne Grashalme – sich nackt und klar abzeichnete und die Wirklichkeit für einen kurzen Augenblick befreit war von den täglichen Illusionen von Sonne und Schatten.
Ohne sie zu sehen, fuhr ich die Linien der Zeichnung mit dem Finger nach, wieder und wieder, während die Dunkelheit aufstieg und die Wirklichkeiten meines Herzens klar vor mir im Dämmerlicht standen. Nein, ich wünschte mir Brianna nicht hierher. Doch das bedeutete nicht, dass sie mir nicht fehlte.
Irgendwann beendete ich meine Notizen und saß dann einen Augenblick lang still da. Ich hätte mich an das Abendessen machen sollen, das wusste ich, doch nach meinem Abenteuer nagte immer noch die Erschöpfung an mir und raubte mir die Willenskraft, mich zu bewegen. All meine Muskeln schmerzten, und der Bluterguss an meinem Knie pochte. Alles, was ich wirklich wollte, war, ins Bett zurückzukriechen.
Stattdessen ergriff ich den Totenschädel, den ich neben meinem Krankenbuch auf den Tisch gelegt hatte. Ich glitt sanft mit dem Finger über das runde Cranium. Es war ein durch und durch makaberer Tischschmuck, das musste ich zugeben, doch ich hing dennoch an ihm. Ich hatte Knochen immer schon schön gefunden, egal, ob von Mensch oder Tier: nackte, elegante Überreste des Lebens, das auf seine Grundlagen reduziert wurde.
Plötzlich erinnerte ich mich an etwas, woran ich seit vielen Jahren nicht mehr gedacht hatte; eine kleine, dunkle Kammer in Paris, die hinter dem Laden eines Apothekers verborgen war. Die Wände mit wabenartigen Regalen überzogen, in jedem Fach ein polierter Schädel. Viele verschiedene Tierarten, von Spitzmäusen bis hin zu Wölfen, Mäusen und Bären.
Und während meine Hand auf dem Kopf meines unbekannten Freundes lag, hörte ich Maître Raymonds Stimme so deutlich in meiner Erinnerung, als stünde er neben mir.
»Zuneigung?«, hatte er gesagt, als ich die hohe Wölbung eines Elchschädels berührte. »Es ist ungewöhnlich, so etwas für einen Knochen zu empfinden, Madonna.«
Doch er hatte gewusst, was ich meinte. Ich wusste, dass es so war, denn als ich ihn fragte, wozu er all diese Schädel hatte, hatte er gelächelt und gesagt: »Sie leisten mir bei meiner Arbeit Gesellschaft.«
Und ich wusste auch, was er meinte, denn der Herr, dessen Schädel ich hier hatte, hatte mir ebenfalls Gesellschaft geleistet, und zwar an einem sehr dunklen und einsamen Ort. Ich fragte mich nicht zum ersten Mal, ob er vielleicht etwas mit der Erscheinung zu tun hatte, die ich auf dem Berg gesehen hatte, dem Indianer mit dem schwarz bemalten Gesicht.
Der Geist – wenn es ein Geist gewesen war – hatte nicht gelächelt oder gesprochen. Ich hatte seine Zähne nicht gesehen, den einzigen Anhaltspunkt für einen Vergleich mit dem Schädel in meiner Hand – denn ich ertappte mich dabei, wie ich mit dem Daumen über den gezackten Rand seines gesprungenen Schneidezahns fuhr. Ich hob den Schädel ins Licht und untersuchte ihn im weichen Licht des Sonnenuntergangs aus der Nähe.
Auf der einen Seite waren seine Zähne zertrümmert, waren gesprungen und zersplittert, als sei sein Mund mit aller Gewalt getroffen worden, vielleicht von einem Stein oder einem Knüppel – einem Gewehrschaft? Auf der anderen Seite waren sie unversehrt, sogar in sehr gutem Zustand. Ich war keine Expertin, glaubte aber, dass es der Schädel eines erwachsenen Mannes Ende dreißig oder Anfang vierzig war. Ein Mann in diesem Alter hätte recht abgenutzte Zähne haben sollen, wenn man in Betracht zog, dass sich die Indianer von Maismehl ernährten, das aufgrund ihrer Art, den Mais zwischen flachen Steinen zu zermalmen, eine beträchtliche Menge gemahlenen Steins enthielt.
Doch die Schneide- und Eckzähne auf der guten Seite waren kaum abgenutzt. Ich drehte den Schädel um, um den Zustand der Backenzähne zu begutachten, und hielt jäh inne.
Mir war plötzlich kalt, trotz der Wärme des Feuers in meinem Rücken. So kalt, wie mir gewesen war, als ich mich in der Dunkelheit verirrt hatte, ohne Feuer, allein auf dem Berg mit dem Kopf eines toten Mannes. Denn die Abendsonne ließ jetzt an meinen Händen das silberne Band meines Eherings aufleuchten – und ebenso die Silberfüllungen im Mund meines verstorbenen Freundes.
Einen Moment lang saß ich da und starrte vor mich hin, dann drehte ich den Schädel um und legte ihn so sanft auf den Tisch, als wäre er aus Glas.