»Mein Gott«, sagte ich, und alle Müdigkeit war vergessen. »Mein Gott«, sagte ich zu seinen leeren Augen und seinem schiefen Grinsen. »Wer bist du gewesen?«
»Was meinst du, wer er gewesen sein könnte?« Jamie berührte den Schädel vorsichtig. Uns blieben nur wenige Momente; Duncan war zum Abort gegangen, und Ian fütterte die Schweine. Doch ich konnte es nicht ertragen zu warten – ich hatte es sofort jemandem sagen müssen.
»Ich habe nicht die geringste Ahnung. Außer natürlich, dass er jemand … wie ich gewesen sein muss.« Ich erschauerte heftig. Jamie sah mich an und runzelte die Stirn.
»Du hast dich doch nicht erkältet, oder, Sassenach?«
»Nein.« Ich lächelte schwach zu ihm hoch. »Mich überläuft es nur kalt.«
Er holte mein Schultertuch vom Haken an der Tür und warf es in einem Schwung um mich. Dann legte er die Hände auf meine Schultern, warm und beruhigend.
»Es bedeutet noch etwas, nicht wahr?«, fragte er leise. »Es bedeutet, es gibt noch eine … Stelle. Vielleicht in der Nähe.«
Noch ein Steinkreis – oder etwas Ähnliches. Ich hatte auch schon daran gedacht, und der Gedanke ließ mich erneut erschauern. Jamie sah den Schädel nachdenklich an, zog sich dann das Taschentuch aus dem Ärmel und drapierte es sanft über die leeren Augen.
»Ich begrabe ihn nach dem Abendessen«, sagte er.
»Oh, das Abendessen.« Ich schob mir die Haare hinter das Ohr und versuchte, meine zerstreuten Gedanken auf das Abendessen zu konzentrieren. »Ja, mal sehen, ob ich ein paar Eier finden kann. Das geht schnell.«
»Mach dir keine Mühe, Sassenach.« Jamie blickte in den Topf auf dem Herdfeuer. »Wir können das hier essen.«
Diesmal erschauerte ich nur, weil ich wählerisch war.
»Igitt«, sagte ich. Jamie grinste mich an.
»Du hast doch nichts gegen eine gute Gerstensuppe, oder?«
»Falls es so etwas überhaupt gibt«, antwortete ich und blickte angewidert in den Topf. »Das hier riecht eher wie Braumaische.« Die Suppe war mit feuchten Körnern gekocht worden, und zwar nicht lange genug, dann hatte man sie stehenlassen; und nun strömte die kalte, schaumige Suppe bereits den Hefegeruch der Fermentierung aus.
»Apropos«, sagte ich und stieß den feuchten Gerstensack mit den Zehen an, »das hier muss zum Trocknen ausgebreitet werden, bevor es verschimmelt, falls das nicht schon passiert ist.«
Jamie starrte auf die ekelerregende Suppe, die Augenbrauen nachdenklich zusammengezogen.
»Aye?«, sagte er dann geistesabwesend. »Oh, aye. Ich mache das.« Er drehte den Sack oben zu und hob ihn auf seine Schulter. Auf dem Weg nach draußen blieb er stehen und warf einen Blick auf den zugedeckten Schädel.
»Du hast gesagt, du glaubst nicht, dass er Christ war«, sagte er und sah mich neugierig an. »Warum denn, Sassenach?«
Ich zögerte, doch die Zeit reichte nicht, um ihm von meinem Traum zu erzählen – wenn es ein Traum gewesen war. Ich konnte hören, wie Duncan und Ian plaudernd auf das Haus zukamen.
»Ohne besonderen Grund«, sagte ich achselzuckend.
»Aye, gut«, sagte er. »Dann behaupten wir es einfach.«
Kapitel 24
Die große Kunst des
Liebesbriefs
Roger nahm an, dass es in Inverness genauso oft regnete wie in Oxford, aber irgendwie hatte ihm der Regen im Norden noch nie etwas ausgemacht. Der kalte, schottische Wind, der vom Moray Firth landeinwärts wehte, regte ihn an, und wenn ihn der Regen durchnässte, wurden seine Lebensgeister geweckt und erfrischt.
Doch das war Schottland mit Brianna an seiner Seite gewesen. Jetzt war sie in Amerika, er in England, und Oxford war kalt und farblos, die Straßen und Gebäude grau wie die Asche eines erloschenen Feuers. Regen prasselte ihm auf die Schultern seines Talars, als er über den Hof des Colleges eilte, einen Arm voller Papiere von den Popelinfalten verdeckt. Als er den Schutz der Portiersloge erreicht hatte, blieb er stehen, um sich zu schütteln wie ein Hund, und versprühte dabei Tropfen auf dem steinernen Durchgang.
»Irgendwelche Post?«, fragte er.
»Glaube schon, Mr. Wakefield. Augenblickchen.« Martin verschwand in seinem Allerheiligsten, und Roger las in der Zwischenzeit die Namen der Kriegsgefallenen des Colleges, die in die Steintafel im Eingangsbereich gemeißelt waren.
»Hier, Mr. Wakefield.« Martin beugte sich strahlend über die Theke und hielt ihm einen dünnen Briefstapel hin. »Heute einer aus den Staaten«, fügte er augenzwinkernd hinzu.
Roger spürte, wie als Antwort ein Grinsen sein Gesicht überzog, und augenblicklich breitete sich ein Wärmegefühl von seiner Brust in seine Gliedmaßen aus und vertrieb die Kühle des Regentages.