Von einer hysterischen Botschaft der Frauen herbeigerufen, war der Pastor in den Stallhof geritten und hatte zwei lange, schwarze Haarzöpfe vorgefunden, die vom Scheunentor herabhingen und sich sanft über einer grob gemalten deutschen Aufschrift im Wind wiegten.
»Das heißt ›Rache‹«, übersetzte Lord John für mich.
»Ich weiß«, sagte ich, und mein Mund war so ausgetrocknet, dass ich kaum sprechen konnte. »Ich habe Sherlock Holmes gelesen. Ihr meint, er …«
»Ganz offensichtlich.«
Der Pastor redete immer noch; er ergriff meinen Arm und schüttelte ihn, um mir die Dringlichkeit seiner Botschaft klarzumachen. Greys Blick verschärfte sich als Reaktion auf die folgenden Worte des Priesters, und er unterbrach ihn mit einer abrupten Frage, die mit wildem Kopfnicken beantwortet wurde.
»Er ist auf dem Weg hierher. Mueller.« Grey schwang mit alarmiertem Gesicht zu mir herum.
Der Pastor, der über die Skalpe fürchterlich erschrocken war, hatte sich auf die Suche nach Herrn Mueller gemacht und musste feststellen, dass der Patriarch seine grausigen Trophäen an die Scheune genagelt und dann den Hof verlassen hatte, in Richtung Fraser’s Ridge – hatte er gesagt –, um mich aufzusuchen.
Wenn ich nicht schon gesessen hätte, wäre ich bei dieser Nachricht vielleicht zusammengebrochen. Ich fühlte, wie mir das Blut aus den Wangen wich, und ich war mir sicher, dass ich mindestens so bleich war wie Pastor Gottfried.
»Warum?«, sagte ich. »Ist er – er kann doch nicht! Er kann doch nicht glauben, dass ich Petronella oder dem Baby etwas angetan habe. Oder?« Ich wandte mich flehend an den Pastor, der sich mit seiner aufgedunsenen, zitternden Hand durch sein graumeliertes Haar fuhr und die sorgsam eingefetteten Strähnen durcheinanderbrachte.
»Der Kirchenmann weiß nicht, was in Mueller vorgeht oder in welcher Absicht er kommt«, sagte Lord John. Er ließ den Blick interessiert über die wenig einnehmende Gestalt des Pastors gleiten. »Zu seiner großen Ehre ist er Mueller ganz allein wie der Teufel hinterhergeritten und hat ihn zwei Stunden später gefunden – bewusstlos am Straßenrand.«
Der hünenhafte, alte Bauer hatte offenbar auf seiner Jagd nach Rache tagelang nichts gegessen. Maßlosigkeit war keine Schwäche, die man bei den Lutheranern fand. Doch so müde und aufgewühlt, wie er war, hatte Mueller nach seiner Rückkehr reichlich getrunken, und die enormen Biermassen, die er konsumiert hatte, waren zu viel für ihn gewesen. Vom Alkohol überwältigt, hatte er es noch geschafft, sein Maultier anzubinden, hatte sich dann aber in seinen Rock gehüllt und war unter der Kriechenden Heide am Straßenrand eingeschlafen.
Der Pastor hatte keinen Versuch unternommen, Mueller zu wecken, denn er kannte das Temperament des Mannes gut und hatte nicht das Gefühl, dass Alkohol es verbessern würde. Stattdessen war Gottfried seinerseits aufs Pferd gestiegen und war losgeritten, so schnell er konnte, im Vertrauen darauf, dass ihn die Vorsehung schon rechtzeitig hier eintreffen lassen würde, um uns zu warnen.
Er hatte keinen Zweifel gehabt, dass mein Mann in der Lage sein würde, unabhängig von Muellers Geisteszustand oder Absicht mit diesem fertigzuwerden, aber da er nicht da war …
Pastor Gottfried blickte hilflos von mir zu Lord John und wieder zurück.
Auf Deutsch legte er uns nahe wegzugehen, und verdeutlichte uns, was er meinte, indem er mit einem Ruck seines Kopfes auf die Koppel wies.
»Ich kann nicht fort«, sagte ich. Ich deutete auf das Haus und erklärte ihm in gebrochenem Deutsch, dass mein Neffe krank sei.
Lord John verbesserte meine Bemühungen ungeduldig und stellte dem Pastor eine weitere Frage.
Dieser schüttelte den Kopf, und seine Sorge verwandelte sich in Erschrecken.
»Er hat die Masern noch nicht gehabt«, sagte Lord John an mich gewandt. »Er darf also nicht hierbleiben, sonst läuft er Gefahr, sich anzustecken, nicht wahr?«
»Ja.« Der Schock begann nachzulassen, und ich fing an, mich zusammenzureißen. »Ja, er sollte sofort gehen. Eure Nähe ist nicht gefährlich für ihn, Ihr seid nicht mehr ansteckend. Ian dagegen schon.« Ich unternahm einen vergeblichen Versuch, mein Haar zu glätten, das mir zu Berge stand – kein Wunder, dachte ich. Dann fielen mir die Skalpe an Muellers Scheunentor ein, und mir standen
Lord John sprach im Befehlston mit dem kleinen Pastor und drängte ihn zu seinem Pferd, indem er ihn am Ärmel zog. Gottfried legte Protest ein, doch der wurde schwächer und schwächer. Er blickte zu mir zurück, das runde Gesicht voller Sorge.
Ich versuchte, ihm beruhigend zuzulächeln, doch ich war genauso beunruhigt wie er.
»Danke«, sagte ich. »Sagt ihm, uns wird schon nichts geschehen, ja?«, sagte ich zu Lord John. »Sonst geht er nicht.« Er nickte kurz.
»Das habe ich schon. Ich habe ihm gesagt, dass ich Soldat bin; dass ich nicht zulasse, dass Euch etwas zustößt.«