Der Gedanke an Brianna war wie ein Stein, der in das Wasser seines Herzens fiel und Wellen der Furcht in alle Richtungen aussandte.
Jedenfalls nicht damals, denn Claire war ihr begegnet – würde ihr begegnen? Früher? Später? Sie war nicht gestorben, doch war sie tot? Inzwischen musste sie es sein, oder auch nicht, und doch – es war so furchtbar verzwickt! Wie sollte er das überhaupt in zusammenhängende Gedanken fassen?
Zu aufgewühlt, um auf der Stelle sitzen zu bleiben, stand er auf und ging durch den Flur. An der Küchentür hielt er inne. Fiona stand an der Spüle und starrte aus dem Fenster. Sie hörte ihn und drehte sich um, das unbenutzte Spültuch in der Hand.
Ihr Gesicht war rot, aber entschlossen.
»Ich darf es niemandem erzählen, aber ich tue es trotzdem, ich muss.« Sie holte tief Luft und presste die Zähne zusammen, was ihr das Aussehen eines Pekinesen gab, der einem Löwen trotzt.
»Briannas Mama – die nette Frau Dr. Randall –, sie hat mich nach meiner Oma gefragt. Sie wusste, dass Oma eine – eine – Tänzerin war.«
»Tänzerin? Was, du meinst im Steinkreis?« Roger schrak ein wenig zusammen. Claire hatte es ihm ganz zu Anfang erzählt, doch er hatte es niemals wirklich geglaubt – nicht, dass die gesetzte Mrs. Graham in der Maidämmerung heidnische Zeremonien auf grünen Hügeln vollführte.
Fiona atmete langsam aus.
»Also weißt du das schon. Das habe ich mir gedacht.«
»Nein, ich weiß es nicht. Ich weiß nur, was Claire – Dr. Randall – mir erzählt hat. Sie und ihr Mann haben einmal in der Dämmerung des Beltane tanzende Frauen in dem Steinkreis gesehen, und deine Oma war eine von ihnen.«
Fiona schüttelte den Kopf.
»Nicht nur eine von ihnen. Oma war die Ruferin.«
Roger trat in die Küche und nahm ihr das Küchentuch aus der widerstandslosen Hand.
»Komm und setz dich«, sagte er und führte sie zum Tisch. »Und erzähl mir, was ist eine Ruferin?«
»Diejenige, die die Sonne herbeiruft.« Sie setzte sich hin. Er sah, dass sie ihren Entschluss gefasst hatte; sie würde es ihm erzählen.
»Er ist in einer von den alten Sprachen, der Sonnengesang; manche Wörter erinnern ein bisschen an Gälisch, aber nicht alle. Zuerst tanzen wir in dem Kreis, dann bleibt die Ruferin stehen und stellt sich vor den gespaltenen Stein und – es ist eigentlich kein Gesang, aber es ist auch etwas anderes als Sprechen; mehr so wie der Priester in der Kirche. Man muss genau im richtigen Moment anfangen, wenn das erste Licht über dem Meer auftaucht, so dass man genau dann fertig wird, wenn die Sonne durch den Stein kommt.«
»Kannst du dich an ein paar von den Wörtern erinnern?« Der Wissenschaftler in Roger erwachte, und trotz seiner Verwirrung meldete sich seine Neugier.
Fiona hatte keine große Ähnlichkeit mit ihrer Großmutter, doch sie warf ihm einen Blick zu, der ihn in seiner Direktheit plötzlich an Mrs. Graham erinnerte.
»Ich kenne sie alle«, sagte sie. »Ich bin jetzt die Ruferin.«
Ihm wurde bewusst, dass sein Mund offen stand, und er schloss ihn. Er griff nach der Keksdose und knallte sie vor sich auf den Tisch.
»Das ist aber nicht das, was du wissen musst«, sagte sie ruhig, »und deshalb erzähle ich es dir auch nicht. Du willst wissen, was mit Mrs. Edgars ist.«
Fiona war wirklich mit Gillian Edgars bekannt gewesen; Gillian war eine der Tänzerinnen gewesen, wenn auch erst seit kurzer Zeit. Gillian hatte die älteren Frauen ausgefragt, begierig, so viel wie möglich zu erfahren. Sie hatte auch den Sonnengesang lernen wollen, doch er war geheim; nur die Ruferin und ihre Nachfolgerin kannten ihn. Manche ältere Frauen kannten ihn teilweise – diejenigen, die den Gesang jahrelang immer wieder gehört hatten –, doch nicht ganz. Wann man beginnen und wie man den Gesang abstimmen musste, damit er mit dem Sonnenaufgang zusammenfiel, das war geheim.
Fiona hielt inne und blickte auf ihre gefalteten Hände.
»Es sind Frauen, nur Frauen. Männer haben dabei nichts zu suchen, und wir erzählen ihnen nichts davon. Unter keinen Umständen.«
Er legte seine Hand auf ihre Hände.
»Es ist richtig, dass du es mir erzählst, Fiona«, sagte er leise. »Bitte erzähl mir den Rest. Ich muss es wissen.«
Sie holte tief und zitternd Luft und zog ihre Hand unter der seinen hervor. Sie sah ihn direkt an. »Weißt du, wo sie hingegangen ist? Brianna?«
»Ich glaube schon. Dahin, wo Gillian gegangen ist, nicht wahr?«