»Du bist eine sehr starke Frau,
»Ich bin nicht stark. Du hast mir gerade bewiesen, dass ich nicht …«
Seine Hand auf ihrer Schulter ließ sie innehalten.
»Das meine ich nicht.« Er hielt inne und dachte nach. Seine Hand strich über ihr Haar, wieder und wieder.
»Sie war zehn, als unsere Mutter starb. Jenny«, sagte er schließlich. »Am Tag nach der Beerdigung kam ich in die Küche und sah sie auf einem Hocker knien, damit sie groß genug war, um in der Schüssel auf dem Tisch zu rühren. Sie hatte Mutters Schürze an«, sagte er leise, »unter den Armen zusammengerafft und die Bänder zweimal um ihre Taille geschlungen. Ich konnte sehen, dass sie geweint hatte, genau wie ich, weil ihr Gesicht ganz scheckig war und sie rote Augen hatte. Aber sie rührte nur immer weiter und starrte in die Schüssel, und sie sagte zu mir: ›Geh und wasch dich, Jamie; das Essen für dich und Pa ist sofort fertig.‹«
Seine Augen schlossen sich ganz, und er schluckte. Dann öffnete er sie und sah Brianna wieder an.
»Aye, ich weiß genau, wie stark Frauen sind«, sagte er ruhig. »Und du bist stark genug, um zu tun, was getan werden muss,
Dann stand er auf und ging zu der Kuh hinüber. Sie hatte sich erhoben und drehte sich unruhig im Kreis, riss und schüttelte an ihrem Halfter. Er hielt sie am Haltestrick fest, beruhigte sie mit seinen Händen und mit Worten, trat hinter sie und runzelte konzentriert die Stirn. Brianna sah, wie er den Kopf wandte, nach seinem Dolch sah, und sich murmelnd zurückwandte.
Also doch kein liebevoller Metzger. Ein Chirurg, auf seine Art, wie ihre Mutter. Aus ihrer seltsam entrückten Perspektive fiel ihr auf, wie sehr sich ihre Eltern – so extrem verschieden sie an Temperament und Charakter waren – in diesem einen Punkt glichen; dieser merkwürdigen Fähigkeit, Mitleid mit äußerster Schonungslosigkeit zu verbinden.
Und doch waren sie selbst da noch verschieden, dachte sie; Claire konnte Leben und Tod in ihrer Hand halten und sich dabei selbst im Blick behalten, den Abstand wahren; ein Arzt musste weiterleben, zum Wohl seiner Patienten, wenn nicht zu seinem eigenen. Jamie würde auf sich selbst keine Rücksicht nehmen, genauso wenig – oder weniger – wie auf irgendjemand anderen.
Er hatte das Plaid abgelegt; jetzt öffnete er sein Hemd, ohne Hast, aber auch ohne jede überflüssige Bewegung. Er zog sich das helle Leinen über den Kopf und legte es ordentlich zur Seite. Dann kehrte er zu seinem Wachtposten beim Schwanz der Färse zurück, bereit, ihr zu helfen.
Eine Welle lief langsam über die runde Flanke der Kuh, und das Licht der Lampe schimmerte weiß auf dem kleinen Narbenknoten über Jamies Herz. Seine Nacktheit preisgeben? Wenn er es für nötig hielt, würde er sich bis auf die Knochen ausziehen. Und – ein weniger angenehmer Gedanke – wenn er es für nötig hielt, würde er mit ihr dasselbe tun, ohne eine Sekunde zu zögern.
Seine Hand lag auf der Schwanzwurzel der Kuh, und er redete ihr auf Gälisch zu, tröstend, ermutigend. Brianna glaubte fast, den Sinn seiner Worte erfassen zu können – und doch nicht ganz.
Alles würde gut werden, oder auch nicht. Doch was auch geschah, Jamie Fraser würde da sein und für sie kämpfen. Es war ein tröstlicher Gedanke.
Jamie blieb auf dem Hang über dem Haus am oberen Zaun der Kuhweide stehen. Es war spät, und er war mehr als nur müde, doch seine Gedanken hielten ihn wach. Nach der Geburt des Kalbes hatte er Brianna zum Blockhaus hinuntergetragen – sie hatte fest wie ein Baby in seinen Armen geschlafen – und war dann wieder hinausgegangen, um in der Einsamkeit der Nacht Erleichterung zu suchen.
Seine Schienbeine schmerzten von ihren Tritten, und er hatte schwere Prellungen an den Oberschenkeln; für eine Frau hatte sie erstaunlich viel Kraft. Doch all das kümmerte ihn nicht im mindesten; eigentlich verspürte er sogar einen seltsamen und unerwarteten Stolz über diese Beweise ihrer Kraft.
Hinter diesen Gedanken lag mehr Hoffnung als Zuversicht. Dennoch war er um seiner selbst willen schlaflos, und er fühlte sich deswegen besorgt und verlegen zugleich. Er hatte geglaubt, er wäre völlig geheilt und hätte die alten Verletzungen so weit hinter sich gelassen, dass er sie unbesorgt vergessen konnte. Doch damit hatte er unrecht gehabt, und es verunsicherte ihn, festzustellen, wie dicht die begrabenen Erinnerungen unter der Oberfläche lauerten.
Wenn er heute Nacht Ruhe finden wollte, dann musste er sie hervorholen; die Geister wecken, um sie zur Ruhe zu legen. Nun, er hatte Brianna gesagt, dass es Kraft kostete. Er blieb stehen und griff an den Zaun.