Dieses Gefühl der Unwirklichkeit wurde noch deutlicher, wenn er sonntags predigte oder als Pastor – wenn auch ohne Brief und Siegel – die Runde machte, um die Kranken zu besuchen oder Rat zu spenden. Wenn er in all diese Gesichter blickte – aufmerksam, aufgeregt, gelangweilt, schlechtgelaunt oder geistesabwesend –, konnte er nicht glauben, dass er sie alle schändlich im Stich lassen würde. Wie würde er es ihnen sagen?, fragte er sich mit etwas, das an Angst grenzte. Vor allem denjenigen, für die er sich am meisten verantwortlich fühlte – Aidan und seiner Mutter.
Er hatte um Kraft und Rat gebeten.
Und doch … doch trug er das Bild von Amandas winzigen blauen Fingernägeln, dem schwachen Keuchen ihres Atems, ununterbrochen mit sich. Und die Steine, die an dem Bach auf Ocracoke aufragten, schienen näher zu kommen und jeden Tag fassbarer zu werden.
Bobby Higgins war tatsächlich auf dem Friedhof und hatte sein Pferd unter den Kiefern angebunden. Er saß mit nachdenklich gesenktem Kopf an Malvas Grab, blickte aber sofort auf, als Roger und die Jungen auftauchten. Er sah bleich und ernst aus, rappelte sich aber hoch und schüttelte Roger die Hand.
»Es freut mich, Euch wiederzusehen, Bobby. Ihr zwei, geht doch spielen, aye?« Er stellte Jemmy auf den Boden und war froh zu sehen, dass er nach einem argwöhnischen Blick auf Malvas Grab – das mit einem verwelkten Wildblumensträußchen verziert war – fröhlich mit Aidan in den Wald lief, um den Eichhörnchen und Erdmännchen nachzujagen.
»Ich – äh – hatte nicht gedacht, dass ich Euch noch einmal wiedersehen würde«, fügte er etwas umständlich hinzu. Bobby senkte den Kopf und strich sich langsam die Kiefernnadeln von der Hose.
»Nun ja, Sir … die Sache ist so, dass ich gern bleiben würde. Falls Ihr damit einverstanden seid«, fügte er hastig hinzu.
»Bleiben? Aber – aber natürlich geht das«, sagte Roger, als er sich von seiner Überraschung erholte. »Habt Ihr – das heißt – Ihr habt Euch doch nicht mit Seiner Lordschaft überworfen, hoffe ich?«
Bobby zog ein erstauntes Gesicht über diese Vorstellung und schüttelte entschieden den Kopf.
»O nein, Sir! Seine Lordschaft ist stets gütig zu mir gewesen, seit er mich aufgenommen hat.« Er zögerte und biss sich auf die Unterlippe. »Es ist nur – nun, seht Ihr, es gehen immer mehr Leute bei Seiner Lordschaft ein und aus. Politiker und – und Armeeoffiziere.«
Er berührte unwillkürlich den Brand auf seiner Wange, der zu einer rosafarbenen Narbe verblasst war, aber nach wie vor deutlich zu sehen war – und es ewig bleiben würde. Roger verstand.
»Dann habt Ihr Euch dort nicht mehr wohl gefühlt?«
»Genau, Sir.« Bobby sah ihn dankbar an. »Früher waren dort nur Seine Lordschaft und ich und Manoke, der Koch. Manchmal hatten wir einen Gast, der zum Abendessen kam oder ein paar Tage geblieben ist, aber es war alles ganz … einfach. Wenn ich für Seine Lordschaft Nachrichten überbracht oder Besorgungen erledigt habe, haben mich die Leute angestarrt, aber nur beim ersten oder zweiten Mal – danach waren sie daran gewöhnt –«, er fasste sich noch einmal ins Gesicht, »– und es war kein Problem. Aber jetzt …« Er verstummte unglücklich und überließ es Roger, sich die wahrscheinlichen Reaktionen der geschniegelten und gebügelten britischen Offiziere auszumalen – die wohl ihre Missbilligung dieses Schandflecks entweder offen zum Ausdruck gebracht hatten – oder durch peinliche Höflichkeit.
»Seine Lordschaft hat das Problem erkannt; so etwas kann er gut. Und er hat gesagt, dass ich ihm fehlen würde, doch wenn ich mein Glück anderswo suchen wollte, würde er mir zehn Pfund und seine besten Wünsche mit auf den Weg geben.«
Roger pfiff respektvoll. Zehn Pfund waren ein respektables Sümmchen. Kein Vermögen, aber absolut genug für einen Neuanfang.
»Sehr schön«, sagte er. »Wusste er, dass Ihr hierherkommen wolltet?«
Bobby schüttelte den Kopf.
»Ich war mir ja selbst nicht sicher«, gab er zu. »Früher wäre ich es gewesen –« Er brach abrupt ab und warf einen Blick auf Malvas Grab, dann räusperte er sich und wandte sich erneut an Roger.
»Ich dachte, ich rede am besten mit Mr. Fraser, bevor ich eine Entscheidung treffe. Es könnte ja sein, dass es hier auch nichts mehr für mich gibt.« Es war als Aussage formuliert, doch die Frage war unüberhörbar. Jeder in Fraser’s Ridge kannte und akzeptierte Bobby; das war nicht das Problem. Doch jetzt, da Lizzie verheiratet war und Malva fort … Bobby suchte eine Frau.
»Oh … ich glaube, Ihr werdet willkommen sein«, sagte Roger mit einem nachdenklichen Blick auf Aidan, der kopfunter an den Knien von einem Ast baumelte, während ihn Jemmy mit Kiefernzapfen bewarf. Ihn durchfuhr ein höchst merkwürdiges Gefühl – irgendwo zwischen Dankbarkeit und Eifersucht, doch Letztere verdrängte er entschlossen.