Jenny räusperte sich mit einem trockenen Blick auf ihren Bruder, dann auf ihren Sohn. Der kleinere Jamie reagierte, indem er sich die Vorderseite des Hemdchens über den Kopf zog, doch der größere grinste unbeeindruckt. Er erhob sich von seinem Sitz und klopfte sich den Staub von der Kniehose. Dann legte er seinem Neffen die Hand auf den verhüllten Kopf und drehte ihn zum Haus um.
»›Ein jegliches hat seine Zeit‹«, zitierte er, »›und alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde.‹ Erst arbeiten wir, kleiner James, und dann waschen wir uns. Und
Nachdem das Geschäftliche erst einmal erledigt war, nahm sich Jamie am nächsten Nachmittag Zeit, mir das Haus zu zeigen. Es war 1702 gebaut worden, und es war modern für seine Zeit, mit Innovationen wie Heizöfen aus Keramik und einem großen gemauerten Ofen in der Küche, so dass das Brot nicht länger in der heißen Kaminasche gebacken wurde. Der Flur im Parterre, das Treppenhaus und die Wände im Salon waren mit gemalten Bildern gesäumt. Hier und da hing eine ländliche Idylle oder eine Tierstudie, doch die meisten zeigten die Familie und ihre Verwandtschaft.
Ich blieb vor einem Bild im Salon stehen, das Jenny als junges Mädchen zeigte. Sie saß auf der Gartenmauer vor einer rot belaubten Kletterpflanze. Mit ihr hockte eine Reihe von Vögeln auf der Mauer, Spatzen, eine Drossel, eine Lerche und sogar ein Fasan, die sich alle vor ihrer lachenden Herrin um den besten Platz drängten. Es war völlig anders als die formelleren Porträts, auf denen der eine oder andere Vorfahr finster aus dem Rahmen blickte, als würde er von seinem Kragen erwürgt.
»Das hat meine Mutter gemalt«, erklärte Jamie, der mein Interesse bemerkte. »Sie hat auch die meisten Bilder im Treppenhaus gemalt, aber hier hängen nur zwei von ihr. Dieses hat sie immer am liebsten gemocht.« Sanft berührte sein großer, stumpfer Finger die Oberfläche der Leinwand und zeichnete den Verlauf der Kletterpflanze nach. »Das waren Jennys zahme Vögel. Immer wenn jemand einen Vogel mit einem verletzten Bein oder einem gebrochenen Flügel fand, hat er das Tier zu ihr gebracht, und es dauerte nur Tage, bis sie es geheilt hatte und es ihr aus der Hand fraß. Der hier hat mich immer an Ian erinnert.« Der Finger tippte auf den Fasan, der die Flügel ausgebreitet hatte, um mit seinem einen Bein im Gleichgewicht zu bleiben, und seine Herrin aus dunklen Augen anhimmelte.
»Du bist furchtbar, Jamie«, sagte ich lachend. »Gibt es auch eins von dir?«
»Oh, aye.« Er führte mich zur Wand am Fenster gegenüber.
Aus dem Rahmen blickten mir feierlich zwei rothaarige, in Tartan gekleidete kleine Jungen entgegen, neben denen ein riesiger Windhund saß. Das musste Nairn sein, Brans Großvater, dazu Jamie und sein älterer Bruder Willie, der mit elf Jahren an den Pocken gestorben war. Jamie konnte nicht älter als zwei gewesen sein, als das Bild gemalt worden war, dachte ich; er stand zwischen den Knien seines älteren Bruders und hatte dem Hund eine Hand auf den Kopf gelegt.
Jamie hatte mir unterwegs von Willie erzählt – eines Abends am Feuer in einem verlassenen Tal. Ich erinnerte mich gut an die kleine Kirschholzschlange, die er aus seinem Sporran geholt hatte, um sie mir zu zeigen.
»Willie hat sie mir zum fünften Geburtstag geschenkt«, hatte er gesagt und war sacht mit dem Finger über den gewundenen Körper gefahren. Es war eine komische kleine Schlange, deren Körper sich kunstvoll ringelte und deren Kopf rückwärts gewandt war.
Jamie hatte mir das kleine Holztier gereicht, und ich hatte es neugierig umgedreht.
»Da ist ja etwas in die Unterseite geritzt. S-a-w-n-y. Sawny?«
»Das bin ich«, hatte Jamie gesagt und den Kopf eingezogen, als wäre er ein wenig verlegen. »Es ist ein Kosename, eine Anspielung auf meinen zweiten Namen, Alexander. So hat Willie mich immer genannt.«
Die Gesichter auf dem Bild ähnelten sich sehr; alle Fraser-Kinder hatten diesen direkten Blick, der sein Gegenüber mahnte, sie nur ja nicht zu unterschätzen. Doch auf diesem Porträt hatte Jamie noch rundliche Wangen und die Stupsnase eines Babys, während der kräftige Knochenbau seines Bruders bereits den Mann zu versprechen begann, der in ihm steckte, eine Verheißung, die sich nie erfüllt hatte.
»Hast du sehr an ihm gehangen?«, fragte ich leise und legte ihm die Hand auf den Arm. Er nickte und wandte den Blick zum Kaminfeuer ab.
»Oh, aye«, sagte er mit einem schwachen Lächeln. »Er war fünf Jahre älter als ich, und ich dachte, er wäre Gott, oder mindestens Jesus. Bin ihm überallhin nachgelaufen, oder zumindest überall, wohin er mich ließ.«
Er wandte sich ab und ging zu den Bücherregalen hinüber. Da ich ihm einen Moment der Zurückgezogenheit lassen wollte, blieb ich stehen und schaute zum Fenster hinaus.