(Politisch unkorrekte Gegenfrage: Kann man wirklich so dumm sein, das aus einem historischen Roman zu schlussfolgern? Ich habe jedenfalls noch von keiner Frau gehört, die das tatsächlich dachte. Im Gegenteil, es ist mehrfach vorgekommen, dass sich in solchen Diskussionen Frauen zu Wort gemeldet haben, die sagten, sie wären Überlebende häuslicher Gewalt, und
Wieder ein paar Jahre Ruhe … und so weiter. Ich weiß nicht, warum das Thema jetzt wieder so aktuell ist – vielleicht liegt es daran, dass demnächst die TV-Folge mit dieser Szene ausgestrahlt wird und das lange Warten darauf die Phantasie einiger Leser angeregt hat, die in Bezug auf dieses Thema empfänglich sind.
Damit will ich natürlich auf keinen Fall sagen, dass das Thema nicht existiert – natürlich tut es das. Aber erstens existiert es schon viel länger, als die Medien davon Notiz nehmen, und zweitens wird bei der Wortwahl gern übertrieben. Vor allem wehre ich mich gegen die Formulierung, die nun bei der jüngsten Runde geäußert wurde, dass Jamie versucht, Claire zu »brechen« (ob nun physisch oder psychisch), indem er ihr den Hintern versohlt.
Dabei geht es doch gerade darum – und nur deshalb kann die Szene funktionieren –, dass er eben nicht versucht, sie zu »brechen«. Er will ihr auch keinen körperlichen Schaden zufügen, und er ist erst recht nicht in Rage. Natürlich wäre er dazu imstande, aber er hat sich absolut im Griff, und er macht genau das, was er vorhat: Er bestraft sie, und zwar genauso, wie man ihn als Kind und als aufsässigen Jugendlichen bestraft hat – und mit exakt derselben Absicht.
Jamies Vater hat auch nicht versucht, ihn irgendwie zu brechen; alles, was er wollte, war, sich die Aufmerksamkeit des Jungen zu sichern und ihm (mit Nachdruck) nahezulegen, dass er sich nach der gesellschaftlichen Ordnung zu richten hatte, zum Nutzen aller, Jamie selbst mit eingeschlossen.
Das ist für Jamie – und für die Menschen in seiner Umgebung – der Zweck einer Strafe. Es geht nicht um Rache, und es geht nicht darum, seine Wut an einem anderen auszulassen; es geht nicht darum, diesen anderen physisch oder psychisch zu vernichten. Es geht darum, die allgemeine Ordnung zu bewahren und den Delinquenten in der sicheren Umgebung der Gruppe halten zu können.
Viele Menschen (in Nordamerika und Westeuropa) des frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts wissen den Wert der Ordnung nicht zu schätzen. (Schalten Sie den Fernseher ein und schauen Sie nur 15 Minuten zu …). Das war früher notwendigerweise anders. In einer lebensfeindlichen Umgebung, in der man zudem durch andere bedroht wird, ist das Überleben nur möglich, wenn man zusammenhält. Es ist nicht möglich, loszuziehen und seine eigenen Ziele zu verfolgen, ohne sich selbst und (wahrscheinlich) auch die Gruppe, zu der man gehört, in Gefahr zu bringen.
Für jemanden, der nach ca. 1965 geboren ist, ist das schwer zu verinnerlichen, weil er sich noch nie in einer solchen Notlage befunden hat.
Mir fällt hier ein Erlebnis auf einer Lesereise ein, in Traverse City, Michigan. Nach einem sehr langen Abend hatten mich die Organisatoren eingeladen, noch etwas essen zu gehen, und wir sind in ein Lokal in der Stadt gegangen, wo noch ein paar andere Leute zu uns gestoßen sind, darunter ein ziemlich interessanter Herr, der ebenfalls Autor ist und früher Marinesoldat war. Er hatte schon überall auf der Welt gelebt, und wir haben uns unter anderem über Kriege und Geschichte unterhalten. Er war etwas älter als ich, aber körperlich sehr fit.
Wie gesagt, es war schon ziemlich spät – das Restaurant hatte extra für uns die Küche noch geöffnet, und wir hatten auf die Schnelle Hamburger und Salat gegessen –, und als wir uns alle gemeinsam auf den Rückweg zum Hotel gemacht haben, waren auf der Straße nur noch Leute, die vor den Kneipen herumlungerten. Als wir uns einer solchen Gruppe näherten, konnten wir sehen, wie sie uns neugierig und sehr genau taxiert haben, dann weggeschaut, sich gegenseitig angestoßen und laut geredet haben, kurz, sie haben sich auf eine Weise benommen, die mich, wäre ich allein gewesen, bewogen hätte, kehrtzumachen und einen Umweg zu nehmen, um ihnen nicht in die Quere zu kommen.
Der Ex-Soldat hat sich – in Anzug und Krawatte – vor unsere kleine Truppe gestellt und in aller Ruhe gesagt: »Lasst mich vorgehen. Haltet euch hinter mir, und bleibt dicht zusammen.« Was wir alle getan haben, das können Sie mir glauben. (Es waren noch zwei andere Männer dabei, die ihm ebenfalls sofort Folge geleistet haben – allerdings instinktiv die drei Frauen flankiert haben.) Wir haben uns wie eine Pfeilspitze durch die größere Gruppe geschoben, die uns mit nicht mehr als dem einen oder anderen vulgären Zuruf durchgelassen hat, und wir sind ohne Zwischenfälle zum Hotel gekommen.