Über Smileys Besuche im Circus
während dieser aufreibenden Zeit gibt es natürlich keine offiziellen
Unterlagen. Er betrat das Gebäude wie sein eigener Geist, schwebte wie
unsichtbar durch die vertrauten Korridore. Auf Enderbys Anraten kam er um ein
Viertel nach sechs Uhr abends, gerade nach Beendigung der Tagschicht und bevor
die Nachtmannschaft ins Geschirr gegangen war. Er hatte Hindernisse erwartet,
war darauf gefaßt gewesen, daß Pförtner, die ihn seit zwanzig Jahre kannten,
sich durch Rückfrage in der fünften Etage absichern würden. Doch Enderby hatte
die Dinge anders arrangiert, und als Smiley sich ohne Durchlaßschein an der
hölzernen Sperre einfand, dirigierte ihn ein Junge, den er nie zuvor gesehen
hatte, mit einem sorglosen Kopfnicken zum offenen Lift. Er fuhr unangefochten
in das Untergeschoß. Beim Aussteigen sah er als erstes das schwarze Brett des
Freizeitklubs, und die Anschläge, die daran hingen, hatten sich seit seiner
Zeit um kein Wort geändert: Kätzchen unentgeltlich abzugeben an Tierliebhaber;
die Nachwuchs-Theatergruppe würde am Freitag
»Ah, wie ich höre, schreiben Sie jetzt an der Geschichte unserer glorreichen Vergangenheit«, bemerkte die Nachtarchivarin nachsichtig. Sie war ein großes Mädchen vom Lande und hatte einen Gang wie Hilary: Selbst im Sitzen schien sie dauernd vornüber zu kippen. Sie knallte einen alten, blechernen Aktenbehälter auf den Tisch. »Mit vielen Grüßen von der fünften Etage«, sagte sie. »Geben Sie Laut, wenn Sie was brauchen, ja?« Die Aufschrift auf dem Griff lautete >Memorabilien<. Smiley hob den Deckel in die Höhe und sah einen Haufen gebundener Akten, die mit einer grünen Kordel umwickelt waren. Er löste sacht die Umschnürung und schlug den ersten Band auf, und sofort starrte Karlas verschwommenes Foto zu ihm auf, wie eine Leiche aus der Dunkelheit ihres Sarges. Er las die ganze Nacht, rührte sich kaum von seinem Platz. Er las sich ebenso weit in seine eigene Vergangenheit hinein wie in die Karlas, und manchmal schien es ihm, als sei das eine Leben ganz einfach die Ergänzung des anderen; als seien sie die Ursachen derselben unheilbaren Krankheit. Und wie schon so oft zuvor fragte er sich wieder, was wohl aus ihm geworden wäre, wenn er Karlas Kindheit gehabt hätte, durch die gleichen Feueröfen revolutionärer Erschütterungen gegangen wäre. Und wie schon so oft zuvor, erlag er der Faszination, die das schiere Ausmaß des Leidens, die bedenkenlose Barbarei und der Heldenmut des russischen Volkes auf ihn ausübten. Im Vergleich dazu fühlte er sich klein und zahm, wenn er auch der Ansicht war, daß es seinem eigenen Leben nicht an Leid gebrach. Als die Nachtschicht endete, saß er immer noch da und starrte auf die vergilbten Seiten, >wie ein Pferd, das im Stehen schläft<, wie es die Nachtarchivarin formulierte, die an Reitturnieren teilnahm. Selbst als sie die Akten wegnahm, um sie wieder zur fünften Etage hinaufzubringen, starrte er noch weiter vor sich hin, bis sie ihn sanft am Ellbogen berührte.