Enderby zog ein einfaches gefaltetes Blatt Papier aus der Innentasche. »Hier, das ist Grigoriews Stammbaum, so weit wir ihn kennen. Er ist sauber durch und durch. Einer der ganz Wenigen. War früher Dozent für Volkswirtschaft an irgendeiner russischen Universität. Mit einer Schreckschraube verheiratet.«
»Vielen Dank«, sagte Smiley höflich. »Herzlichen Dank.«
»Inzwischen haben Sie meinen Segen, was ich im Ernstfall strikt ableugnen werde«, sagte Enderby, während sie sich auf den Rückweg zum Haus machten.
»Vielen Dank«, sagte Smiley wieder.
»Tut mir leid, daß Sie ein Opfer der imperialistischen Heuchelei werden mußten, aber Sie sind nicht der einzige.«
»Keine Ursache«, sagte Smiley.
Enderby blieb stehen und wartete, bis Smiley ihn eingeholt hatte.
»Wie geht's Ann?«
»Danke, gut.«
»Wie viel -« Plötzlich geriet er aus dem Konzept. »Sagen wir mal so, George«, meinte er, nachdem er eine Weile die köstliche Nachtluft genossen hatte. »Reisen Sie in diesem Fall in Geschäften oder zum Vergnügen? Worum geht's?«
Smileys Antwort ließ auf sich warten und war ebenso indirekt:
»Mit dem Begriff Vergnügen konnte ich nie viel anfangen«, sagte er. »Oder vielleicht sollte ich sagen: mit dem Unterschied.«
»Hat Karla noch immer das Feuerzeug, das sie Ihnen schenkte? Das stimmt doch, oder? Es heißt, damals, als Sie in Delhi mit ihm sprachen - ihn umdrehen wollten -, habe er Ihnen das Feuerzeug geklaut. Besitzt es heute noch, wie? Benutzt es noch immer? Würde mich ganz schön wurmen, wenn es mir gehört hätte.« »Es war nur ein gewöhnliches Ronson-Feuerzeug«, sagte Smiley. »Allerdings sind diese Dinger sehr stabil, so gut wie unverwüstlich, nicht wahr?«
Sie trennten sich grußlos.
20
In den Wochen nach seiner
Unterredung mit Enderby war George Smileys Stimmung so komplex und
vielschichtig wie die Skala der Vorbereitungsarbeiten, die er in Angriff
genommen hatte. Er fand keine Ruhe; alles an ihm war in undefinierbarer
Bewegung, die einzige Konstante war seine zielgerichtete Entschlossenheit.
Jäger, weltabgeschiedener Liebhaber, Einsamer auf der Suche nach Ergänzung,
subtiler Teilnehmer am Großen Spiel, Zweifler auf der Suche nach Bestätigung -
Smiley verkörperte abwechselnd jede dieser Rollen und manchmal sogar mehrere
zugleich. Wer immer sich später an ihn erinnerte - Mendel, der Polizist im
Ruhestand, einer seiner wenigen Vertrauten; eine gewisse Mrs. Gray, Besitzerin
einer bescheidenen Frühstückspension für alleinstehende Herren in Pimlico, wo
er aus Sicherheitsgründen vorübergehend sein Hauptquartier aufgeschlagen
hatte; Toby Esterhase, alias Benati, der distinguierte, auf Arabica
spezialisierte Kunsthändler, alle sprachen auf ihre Art von einer ominösen
Mendel, ein springlebendiger, scharf beobachtender Mann mit einem Hang zur Bienenzucht, sagte rundheraus, daß George sich für seinen großen Kampf warm trainiere. Als ehemaliger Amateurboxer, der seinerzeit im Mittelgewicht die Farben seiner Abteilung vertreten hatte, machte er sich anheischig, die Zeichen eines bevorstehenden Kampfes zu erkennen: eine Nüchternheit, eine klärende Einsamkeit, die bewiesen, daß Smiley »an seine Hände dachte«. Mendel scheint ihn gelegentlich eingeladen und ihm Mahlzeiten gekocht zu haben. Aber Mendel war zu klarsichtig, um nicht auch Smileys andere Seiten zu bemerken: die Ratlosigkeit, oft als gesellschaftliche Verpflichtung getarnt; seine Gewohnheit, sich unter einem fadenscheinigen Vorwand davonzumachen, als halte er das Stillsitzen nicht mehr länger aus, als brauche er Bewegung, um sich selbst zu entrinnen.