Sie wußte das alles, denn man hatte ihr als besondere Vergünstigung erlaubt, an dem Fest teilzunehmen: Ihr erstes, und zu ihrem großen Gaudium galt es, die gemeine Zwiebel zu feiern. Sie hatte zwischen Schwester Ursula und Schwester Béatitude gestanden, und sie wußte, daß beide scharf aufpaßten für den Fall, daß sie, Alexandra, versuchte auszureißen oder daß sie ins Haus zurückrennen und verrückt spielen würde, und sie ließ eine Stunde langweiligster Ansprachen über sich ergehen, dann eine Stunde Gesang, begleitet von schmetternder militärischer Blechmusik. Anschließend ein Vorbeimarsch von Leuten in Dorftracht, die Ketten von Zwiebeln an langen Stöcken trugen, allen voran der Fahnenschwinger, der an gewöhnlichen Tagen die Milch zum Pförtnerhaus und, wann immer er daran vorbeiwischen konnte, zum Tor des Heims brachte, in der Hoffnung, eines der Mädchen durch das Fenster zu sehen, oder vielleicht war es auch Alexandra, die versuchte, ihn zu sehen.
Nachdem die Dorfglocken sechs Uhr
geläutet hatten, beschloß Alexandra, in den tiefsten Tiefen ihres Bettes die
Sekunden bis in alle Ewigkeit zu zählen. In ihrer selbstauferlegten Rolle als
Kind hatte sie vor sich hingewispert: >eintausendund
Nach der Ankunft von Mutter Felicitas hatte Alexandra die weiße Bettdecke bis zu den Augen hochgezogen und beschlossen, daß die Zeit still stehen solle, daß sie ein Kind sei in einem weißen Kinderreich, wo alles schattenlos war, selbst Alexandra, selbst Tatjana. Weiße Lampen, weiße Wände, ein weißes, eisernes Bettgestell. Weiße Heizkörper. Durch die hohen Fenster weiße Berge vor einem weißen Himmel.
Herr Dr. Rüedi, dachte sie, hier ist ein neuer Traum für unser nächstes Donnerstagsgespräch, oder ist es Dienstag?
Hören Sie gut zu, Herr Doktor.
Reicht Ihr Russisch dazu aus? Manchmal behaupten Sie, mehr zu verstehen, als in
Wirklichkeit der Fall ist. Schön, ich fange an. Ich heiße Tatjana, und ich
stehe in meinem weißen Nachthemd vor der weißen Alpenlandschaft, versuche mit
der weißen Kreide von Felicitas-Felicitas, deren wirklicher Name Nadezhda ist,
auf die Bergwand zu schreiben. Ich trage nichts darunter. Sie behaupten, sich
aus solchen Dingen nichts zu machen, aber wenn ich Ihnen erzähle, wie sehr ich
meinen Körper liebe, dann sind Sie ganz Ohr, nicht wahr, Herr Dr. Rüedi? Ich
kritzle mit der Kreide auf die Bergwand. Ich drücke darauf, wie mit einer
Zigarette, die man ausmacht. Ich denke an die schmutzigsten Wörter, die ich
kenne - jawohl, Herr Doktor Rüedi,
Herr Doktor, es ist furchtbar, Sie
dürfen nie meine Träume haben. Wissen Sie, daß ich einst eine Hure war, namens
Tatjana? Daß ich kein Unrecht tun kann? Daß ich Dinge in Brand stecken kann,
auch mich selbst, den Staat schlecht machen
Wußten Sie das?