Als sie Schritte auf dem Flur hörte, kroch Alexandra noch tiefer unter die Decke: Die Französin wird auf die Toilette geführt, dachte sie. Die Französin war das schönste Mädchen des Heims. Alexandra liebte sie, wegen ihrer Schönheit. Die Französin hob damit das ganze System aus den Angeln. Selbst wenn sie in die Zwangsjacke gesteckt wurde - weil sie sich selbst verkratzt oder besudelt oder irgendetwas zerbrochen hatte - schaute ihr Engelsgesicht sie an wie eine der zahlreich vorhandenen Ikonen. Selbst wenn sie ihr form- und knopfloses Nachtgewand trug, spannten ihre Brüste den Stoff zu einem steilen Grat, und niemand, nicht einmal die Eifersüchtigsten, nicht einmal Felicitas-Felicitas, die eigentlich >Hoffnung< hieß, konnte sie daran hindern, wie ein Filmstar auszusehen. Wenn sie sich die Kleider vom Leib riß, dann starrten die Nonnen sie in einer Art begehrlichem Schauder an. Nur die Amerikanerin hatte es an Schönheit mit ihr aufnehmen können, aber die Amerikanerin war weggebracht worden, sie war zu schlimm gewesen. Die Französin war schon schlimm genug mit ihrem Entkleidungsfimmel, ihrer Pulsadernaufschneiderei, ihren Wutanfällen gegenüber Felici-
tas-Felicitas - aber das war alles nichts im Vergleich zu dem, was die Amerikanerin getrieben hatte, bevor sie wegging. Die Schwestern hatten Kranko aus dem Pförtnerhaus holen müssen, damit er sie zur Verabreichung einer Spritze niederhielte. Sie hatten dazu den ganzen restlichen Flügel räumen lassen müssen, doch als der Kastenwagen die Amerikanerin wegbrachte, war es wie ein Todesfall in der Familie gewesen, und Schwester Béatitude hatte während der ganzen Morgenandacht geweint und später, als Alexandra sie drängte, alles zu erzählen, hatte Schwester Béatitude sie bei ihrem Kosenamen genannt, ein sicheres Zeichen von Verzweiflung.
»Die Amerikanerin ist nach Untersee gegangen«, hatte sie auf Drängen Alexandras unter Tränen gesagt. »Oh, Sascha, Sascha, versprich mir, daß du nie nach Untersee gehen wirst.« So wie man sie in dem Leben, von dem sie nicht sprechen durfte, gebeten hatte: »Tatjana, du darfst diese verrückten und gefährlichen Dinge nicht tun!«
Danach war >Untersee< für Alexandra zum schlimmsten Schreckgespenst geworden, zu einer Drohung, die sie jederzeit zur Räson bringen konnte, auch wenn sie noch so ungebärdig war: »Wenn du böse bist, kommst du nach Untersee, Sascha. Wenn du Herrn Doktor Rüedi ärgerst, vor ihm deinen Rock hochziehst und die Beine übereinanderschlägst, muß dich Mutter Felicitas nach Untersee schicken. Ruhig, oder du kommst nach Untersee.«
Die Schritte kamen wieder den Flur zurück. Die Französin wird zum Anziehen gebracht. Manchmal wehrte sie sich dagegen und landete in der Zwangsjacke. Manchmal ließ man Alexandra holen, damit sie das Mädchen beruhigen solle. Sie kämmte dann wortlos der Französin das Haar, solange, bis das Mädchen sich entspannte und anfing, ihr die Hände zu küssen. Dann wurde Alexandra fortgeschickt, denn Liebe stand nicht, stand keineswegs, stand unter gar keinen Umständen auf dem Lehrplan. Die Tür flog auf und Alexandra hörte Felicitas-Felicitas' artige Stimme, die sie mahnte wie ein altes Kindermädchen in einem russischen Stück:
»Sascha! Du mußt sofort aufstehen! Sascha, wach sofort auf! Sascha, wach auf! Sascha!«
Sie kam einen Schritt näher. Alexandra fragte sich, ob sie wohl die Decke wegreißen und sie aus dem Bett ziehen würde. Mutter Felicitas konnte, trotz ihres aristokratischen Bluts, rauh sein wie ein Soldat. Sie war kein Tyrann, verstand aber keinen Spaß und war schnell eingeschnappt.
»Sascha, du kommst zu spät zum Frühstück. Die anderen Mädchen werden auf dich schauen und lachen und sagen, daß wir dummen Russen immer zu spät dran sind. Sascha? Sascha, willst du die Morgenandacht versäumen? Gott wird sehr böse auf dich sein, Sascha. Er wird traurig sein, und Er wird weinen. Vielleicht muß Er sich auch überlegen, wie Er dich bestrafen soll.«
Sascha, willst du nach Untersee kommen?
Alexandra drückte die Lider noch fester zu. Ich bin sechs Jahre alt, und ich brauche meinen Schlaf, Ehrwürdige Mutter. Gott, mach mich fünf Jahre alt, Gott, mach mich vier. Ich bin drei Jahre alt und brauche meinen Schlaf.
»Sascha, hast du vergessen, daß heute dein besonderer Tag ist? Sascha, hast du vergessen, daß heute dein Besuch kommt?«
Gott, mach, daß ich zwei Jahre alt bin, Gott, mach, daß ich ein Jahr alt bin, Gott, mach, daß ich nichts bin und ungeboren. Nein, ich habe meinen Besuch nicht vergessen, Ehrwürdige Mutter. Ich hab' an meinen Besuch gedacht vor dem Einschlafen, ich hab' von ihm geträumt, ich hab' an nichts anderes gedacht, seit ich wach bin. Aber, Ehrwürdige Mutter, ich will meinen Besuch heute nicht und auch an keinem anderen Tag, ich kann nicht, ich kann mein Leben nicht in die Lüge zwingen, ich weiß nicht, wie ich das machen soll, und darum will ich nicht, will ich ganz und gar nicht, daß der Tag beginnt.
Gehorsam kletterte Alexandra aus dem Bett.