Die kleine Gestalt setzte sich
wieder in Bewegung, doch langsamer, als sei sie müde geworden. Er facht seinen
Mut für den letzten Schritt an, dachte Smiley, oder er versucht, seinen Mut zu
zügeln. Er dachte an Waldimir und an Otto Leipzig und an den toten Kirow, er
dachte an Haydon und an die Trümmer seines eigenen Lebens; er dachte an Ann,
die Karlas listige und Haydons berechnende Liebesmühe in seinen Augen für
immer gezeichnet hatte. Er sagte sich in seiner Verzweiflung eine ganze Liste
von Verbrechen vor- die Folterungen, die Morde, die endlose Kette der Korruption
-, die dem einsamen Fußgänger auf der Brücke anzulasten waren, doch die Last
glitt von den schmächtigen Schultern des Mannes: Er wollte die Beute nicht, die
mit diesen Methoden erjagt worden war. Und wieder hatte Smiley den Eindruck,
daß der gezackte Horizont ihn zu sich hinüberwinkte, ihn im Inferno des
wirbelnden Schnees ansog wie ein schwindelerregender Abgrund. Eine weitere
Sekunde stand er schwankend am Rand des schwelenden Flusses.
Sie hatten sich in Bewegung gesetzt
und gingen nun den Treidelweg entlang, Guillam voraus, Smiley widerstrebend
hinterher. Der Lichtkreis lag vor ihnen, wurde immer größer, je mehr sie sich
ihm näherten. Wie zwei gewöhnliche Fußgänger, hatte Toby gesagt. Gehen
Sie einfach zur Brücke und warten Sie, das ist völlig normal. Aus der
Dunkelheit um ihn hörte Smiley flüsternde Stimmen und das flüchtige, gedämpfte
Geräusch von hastigen, mit Nervosität geladenen Bewegungen. George,
flüsterte jemand. George. In einer gelben Telefonzelle hob eine
unbekannte Gestalt die Hand zu einem diskreten Gruß, und er hörte, wie ihm
durch die nasse, gefrierende Luft das Wort Sieg zugeschmuggelt wurde.
Der Schnee trübte seine Gläser, und er hatte Mühe zu sehen. Hinter den Fenstern
des Beobachtungspostens zu ihrer Rechten brannte kein Licht. Vor dem
Hauseingang bemerkte Smiley einen geparkten Kastenwagen und stellte fest, daß
es ein Berliner Postauto war, Tobys Lieblingsmarke. Guillam blieb zurück.
Smiley hörte so etwas wie >Preis einheimsen<. Sie hatten den Saum des
Lichtkreises erreicht. Ein orangefarbener Wall entzog Brücke und Absperrung
ihren Blicken. Doch auch sie waren außerhalb der Sichtlinie des Schilderhauses.
Toby Esterhase stand, über dem Christbaum schwebend, auf dem Beobachtungsgerüst
und mimte, mit einem Fernglas bewaffnet, gelassen den Kalten-Krieg-Touristen,
sekundiert von einer stämmigen Observantin. Ein alter Anschlag machte ihnen
klar, daß sie auf eigene Gefahr hier standen. Auf der zerstörten
Backsteinüberführung erspähte Smiley ein vergessenes Wappen. Toby machte eine
winzige Handbewegung: Daumen nach oben, unser Mann kommt. Von jenseits
des Walls hörte Smiley leichte Fußtritte und das Vibrieren eines Eisengitters.
Er nahm den Geruch einer amerikanischen Zigarette wahr, den der eisige Wind
dem Raucher vorausschickte. Da ist immer noch das automatisch gesteuerte
Gatter, dachte er. Er wartete auf das hallende Geräusch des Zuschlagens, doch
es kam keines. Er überlegte, daß er eigentlich gar nicht wußte, wie er seinen
Gegner anreden sollte: Er kannte nur einen Codenamen und noch dazu einen
weiblichen. Selbst sein militärischer Rang war ein Geheimnis. Und immer noch
zögerte Smiley, wie jemand, der sich weigerte, die Bühne zu betreten.