Guillam wandte den Blick wieder dem Fenster und der Brücke zu. Zuerst kamen die Pfeiler der Hochbahn, dann das alte Backsteinhaus, das von Sam Collins diskret als Beobachtungszentrale requiriert worden war. Seine Leute hatten in den letzten beiden Tagen heimlich darin Stellung bezogen. Dann kam der Lichthof von Bogenlampen und dahinter eine Absperrung, ein MG-Stand und schließlich die Brücke. Die Brücke war nur für Fußgänger, und der einzige Weg darüber bestand aus einem stahlumzäunten, laufgitterartigen Korridor, der manchmal einer, manchmal drei Personen Durchgang gewährte. Gelegentlich kam jemand mit beflissen harmloser Miene und steten Schritts herüber, bemüht, den Wachturm nicht zu beunruhigen, und trat dann in den Lichtkreis der Bogenlampen, wenn er den Westen erreicht hatte. Bei Tageslicht war der Laufgang grau, nachts aus irgendeinem Grund gelb und seltsam leuchtend. Der MG-Stand befand sich einen oder zwei Meter innerhalb der Grenze, sein Dach überragte nur knapp die Absperrung. Beherrscht wurde das Ganze von dem Turm, einem eisenschwarzen, rechteckigen Gebilde in der Mitte der Brücke. Selbst der Schnee hielt sich von ihm fern. Er lag auf den Betonzähnen, die jeglichen Autoverkehr verhinderten, er wirbelte um die Lampen und den MG-Stand und ließ sich malerisch auf das Kopfsteinpflaster nieder; doch der Wachturm war tabu, als ob nicht einmal der Schnee sich ihm aus eigenem freien Willen nähern wollte. Kurz vor den Lampen verengte sich der Laufgang zu einem letzten Gatter und einem Pferch. Das Gatter, sagte Toby, konnte im nu vom Inneren des MG-Stands aus automatisch geschlossen werden.
Es war zehn Uhr dreißig, doch es hätte ebensogut drei Uhr morgens sein können, denn an der Grenze entlang geht Berlin mit Einbruch der Dunkelheit schlafen. Im Landesinneren mag die Inselstadt plaudern und trinken und huren und ihr Geld verpulvern; die Leuchtreklamen und die wiederaufgebauten Kirchen und Konferenzhallen mögen glitzern wie ein Rummelplatz: Auf den dunklen Grenzstreifen schweigt das Leben ab sieben Uhr abends. Dicht neben den Bogenlampen stand ein Christbaum, aber nur die obere Hälfte war mit Lichtern versehen, denn nur die obere Hälfte konnte man vom anderen Ufer aus sehen. Es ist ein Ort, der keinen Kompromiß kennt, dachte Guillam, keinen dritten Weg. Welche Vorbehalte er auch gelegentlich gegenüber der westlichen Freiheit gehegt haben mochte, an dieser Grenze wurden sie, wie die meisten anderen Dinge, null und nichtig. »George«, sagte Guillam leise und warf Smiley einen fragenden Blick zu.
Ein Arbeiter war in den Lichtkreis
getreten. Er schien förmlich hineinzuwachsen, wie alle, wenn sie aus dem
Laufgang kamen: Als sei eine Last von ihren Schultern gefallen. Er trug eine
kleine Mappe und etwas, das wie eine Eisenbahnerlampe aussah. Er war von
schmalem Wuchs. Doch Smiley war, wenn er den Mann überhaupt bemerkt hatte,
wieder zu den Revers seines braunen Mantels und zu seinen einsamen, in der
Ferne weilenden Gedanken zurückgekehrt. »Wenn er kommt, kommt er pünktlich«,
hatte er gesagt. Warum müssen wir dann zwei Stunden früher hier sein? war
Guillam versucht zu fragen. Warum sitzen wir hier wie zwei Fremde, trinken aus
winzigen Tassen süßen Kaffee, der vom Dampf der elenden türkischen Küche
durchtränkt ist und reden nichtssagendes Zeugs? Aber er kannte die Antwort
bereits. Weil wir dazu
Er kommt, dachte Guillam. Er kommt nicht. Er kommt vielleicht. Wenn das kein Gebet ist, dachte er, was ist dann eins?
»Noch einen Kaffee, George?«
»Nein, danke Peter; nein, ich glaube nicht. Nein.«
»Es scheint auch so etwas wie Suppe zu geben. Falls das nicht der Kaffee war.«
»Vielen Dank, ich glaube, ich habe alles zu mir genommen, was in mich hineingeht«, sagte Smiley im Plauderton, so, als wolle er jedem eventuellen Lauscher die Möglichkeit geben, auf seine Kosten zu kommen.
»Vielleicht sollten wir etwas bestellen, nur einfach als Miete«, sagte Guillam.
»Miete? Verzeihung. Natürlich. Weiß Gott, wovon sie leben.«
Guillam bestellte zwei weitere Kaffees, die er sofort bezahlte. Er tat dies jedesmal, für den Fall, daß sie schnell weg müßten.
Komm George zuliebe, dachte er, mir zuliebe. Komm verdammt nochmal uns allen zuliebe, damit wir die unmögliche Ernte einbringen können, von der wir schon so lange träumen.
»Wann haben Sie gesagt, daß das Baby fällig ist, Peter?«
»Im März.«
»Ah, im März. Wie werden Sie es nennen?«
»Das haben wir uns eigentlich noch nicht überlegt.«