Ganz sicher gab er Karla wenig Zeit, sich zu entschließen. Einer der Lehrsätze über die Ausübung von Druck lautet, wie auch Karla sehr wohl wußte: Zeit zum Nachdenken ist gefährlich. Nur daß in diesem Fall Anlaß besteht zu vermuten, daß die Zeit auch für Smiley gefährlich war, wenn auch aus völlig anderen Gründen: Er hätte in elfter Stunde zurückschrecken können. Ausschließlich der unmittelbare Zwang zum Handeln kann, nach Sarratt-Überlieferung, das Wild dazu bringen, seine Scheu abzuwerfen und sich jedem angeborenen oder anerzogenen Instinkt zuwider ins Unbekannte zu stürzen. Das gleiche mag bei dieser Gelegenheit wohl auch für den Jäger gegolten haben.
27
Es ist, als setze man sein ganzes Geld auf Schwarz, dachte Guillam, als er aus dem Fenster des Cafes starrte: Alles, was man auf der Welt hat, seine Frau, sein ungeborenes Kind. Und dann wartet, Stunde um Stunde, bis der Croupier die Scheibe in Bewegung setzt.
Er hatte Berlin gekannt, als es noch die Welthauptstadt des Kalten Krieges war, als jeder Übergang von Ost nach West einem chirurgischen Eingriff gleichkam. Er erinnerte sich, wie in Nächten wie dieser Scharen von Berliner Polizisten und alliierter Soldaten immer unter den Bogenlampen herumstanden, füßestapfend auf die Kälte fluchten, das Gewehr von einer Schulter auf die andere warfen und sich gegenseitig frostige Atemwolken ins Gesicht bliesen. Er erinnerte sich, wie die Tanks mit laufendem Motor warteten, die Kanonenläufe in Imponiergebärde nach drüben gerichtet. Er erinnerte sich an das plötzliche Aufheulen von Alarmsirenen und an die Blitzfahrt zur Bernauerstraße oder wo immer der letzte Fluchtversuch stattgefunden hatte. Er erinnerte sich an das Ausfahren von Feuerwehrleitern, die Befehle, zurückzuschießen; nicht zurückzuschießen; an die Toten, einige davon Agenten. Doch nach der heutigen Nacht, das wußte er, würde er sich an die Stadt nur noch als etwas erinnern, das so dunkel war, daß man nicht ohne Taschenlampe auf die Straße gehen wollte, so still, daß man das Spannen eines Gewehrhahns über den Fluß herüber hörte.
»Was wird er als Tarnung benützen?« fragte er.
Smiley saß ihm an dem kleinen Plastiktisch gegenüber, an seinem rechten Ellbogen stand eine Tasse mit kaltem Kaffee. Er sah sehr klein aus in seinem Mantel.
»Etwas Bescheidenes«, sagte Smiley. »Etwas Passendes. Hier kommen meist nur betagte Rentner herüber, nehme ich an.« Er rauchte eine von Guillams Zigaretten, die seine gesammelte Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen schien.
»Was um alles auf der Welt wollen denn Rentner hier?« fragte Guillam.
»Manche arbeiten. Manche besuchen Verwandte. Ich habe mich nicht sehr eingehend erkundigt, fürchte ich.«
Guillam schien diese Erklärung nicht zu befriedigen.
»Wir Rentner bleiben am liebsten unter uns«, fügte Smiley in dem kläglichen Versuch, einen Scherz zu machen, hinzu.
»Wem sagen Sie das«, sagte Guillam.
Das Cafe lag im türkischen Viertel, denn die Türken sind jetzt die armen Weißen von West-Berlin, und Wohnungen sind am miesesten und am billigsten in der Nähe der Mauer. Smiley und Guillam waren die einzigen Fremden. An einem langen Tisch saß eine ganze türkische Familie, kaute Fladenbrot und trank Kaffee und Coca Cola. Die Kinder hatten kahlgeschorene Schädel und die großen, verwunderten Augen von Flüchtlingen. Islamitische Musik ertönte von einem alten Bandgerät. Farbige Plastikbänder hingen von dem aus einer Hartfaserplatte geschnittenen islamitischen Türbogen.