Die Luft im Unterstand war stickig und roch nach vermodertem Laub. Smiley kauerte sich an die Schießscharte, der Saum seines Tweedmantels schleifte über den Schmutz, während er die Szene vor sich betrachtete, als spielte sich in ihr sein eigenes langes Leben ab. Der Fluß war breit und langsam und nebelig vor Kälte. Bogenlampen ließen ihre Strahlen, in denen der Schnee tanzte, darüber spielen. Die Brücke ruhte auf mächtigen Steinpfeilern, sechs oder acht an der Zahl, die sich, wo sie ins Wasser tauchten, zu klobigen Sockeln verdickten. Zwischen den Pfeilern rundeten sich Bogen, von denen einer, der mittlere, so begradigt war, daß Schiffe durchfahren konnten. Doch das einzige Schiff war ein graues, am Ostufer festgemachtes Patrouillenboot, und das einzige Handelsgut, das es zu bieten hatte, war der Tod. Hinter der Brücke stand, wie ihr eigener, riesiger Schatten, die Bahnüberführung, aber wie der Fluß war auch sie stillgelegt, es fuhren keine Züge mehr darüber. Die Lagerhäuser am fernen Ufer wirkten monströs, wie die Gefängnisschiffe eines vergangenen, barbarischen Zeitalters, und die Brücke mit ihrem gelben Laufgang schien auf halber Höhe aus ihnen herauszuspringen, wie ein phantastischer Lichtweg aus der Dunkelheit. Von seinem strategischen Punkt aus konnte Smiley mit dem Feldstecher die ganze Strecke überblicken, von dem flutlichtüberstrahlten, weißen Barackenbau am Ostufer bis zum schwarzen Wachturm am Ende der Steigung und dann, leicht bergab nach der westlichen Seite, bis zum Pferch, dem MG-Stand, der das Gatter überwachte, und schließlich dem Lichthof der Bogenlampen.
Guillam stand knapp hinter ihm, doch Guillam hätte ebensogut in Paris sein können, so wenig war Smiley sich seiner Anwesenheit bewußt: Er hatte gesehen, wie die einsame, schwarze Gestalt zu ihrem Gang ansetzte; er hatte das Aufglühen des Zigarettenstummels gesehen, als der Mann einen letzten Zug tat; den Funkenregen, als er ihn über die Eisenumzäunung des Laufgangs ins Wasser schnippte. Ein kleiner Mann, in einem halblangen Arbeitskittel, eine Werkzeugtasche über die schmale Brust gehängt, der weder schnell noch langsam ging, sondern eben so wie ein Mann, der gewohnt ist, viel zu gehen. Ein kleiner Mann, der Körper ein bißchen zu groß im Verhältnis zu den Beinen, barhäuptig trotz des Schnees. Das ist alles, dachte er: Ein kleiner Mann geht über eine Brücke.
»Ist er es?« flüsterte Guillam. »George, sagen Sie. Ist es Karla?«
»Er ist es!« flüsterte Guillam. Er hatte das Fernglas aus Smileys willenloser Hand genommen. »Es ist derselbe Mann. Das Foto, das an Ihrer Wand im Circus hing. George, Sie Zauberkünstler!« Doch Smiley sah im Geist nur die Suchscheinwerfer der Vopos, die Karla einfingen wie Autoscheinwerfer einen Hasen, so schwarz vor dem weißen Hintergrund des Schnees, sah Karlas hoffnungslosen Altmännerlauf, bevor die Kugeln ihn von den Beinen rissen und wie eine Stoffpuppe purzeln ließen. Wie Guillam hatte Smiley das alles schon einmal miterlebt. Er schaute wieder über den Fluß in die Dunkelheit, und ein frevlerischer Schwindel erfaßte ihn, als das Böse, das er bekämpft hatte, nach ihm zu greifen, von ihm Besitz zu nehmen schien, trotz seiner Gegenwehr auf ihn Anspruch erhob und ihn auch einen Verräter nannte; ihn verspottete und zugleich seinen Verrat guthieß. Über Karla war der Fluch von Smileys Mitgefühl gekommen; über Smiley der Fluch von Karlas Fanatismus: Ich habe ihn mit den Waffen zerstört, die ich verabscheute, mit den seinen. Wir haben einer des anderen Grenze überschritten, wir sind Niemande in diesem Niemandsland.
»Nur immer weitergehen«, murmelte Guillam. »Nur immer weitergehen, laß dich durch nichts aufhalten.«
Als er sich der Schwärze des
Wachturms näherte, machte Karla ein paar kürzere Schritte, und einen Augenblick
lang dachte Smiley wirklich, er habe sich eines anderen besonnen und wolle
sich den Ostdeutschen ergeben. Dann sah er das Züngeln einer Flamme, als Karla
sich eine neue Zigarette anzündete. Mit einem Zündholz oder mit einem
Feuerzeug? fragte sich Smiley.
»Mann, der hat Nerven!« sagte Guillam.